Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Unter den Weissgärbern
Die alte Josefstadt
Pötzleinsdorf
Geistliche Feste und weltliche Bräuche
Bäckerstrasse, Tanzstunde und erste Liebe
Jugendfreundschaft und grosses Lügen
Nachtstück in der Lenaugasse
Dein Bruder
Der Tod der Mutter
Mein Freund Karl Satter
Der Praterinspektor Huber
Schicksal in Mödling
Der Tod des Vaters
Lebensbericht an Felix Braun
Curriculum vitae 1
Curriculum vitae 2
Aus "Mein Leben"

Mein Freund Karl Satter

Aus „MEIN LEBEN“ von Anton Wildgans, 1910

 

 

 

Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihn zum erstenmale sah. Er kam erst drei oder vier Wochen nach Schulanfang in den Unterricht. Er hatte ein Augenübel zu überstehen gehabt, wovon die leicht entzündeten Lider in seinem schmalen blassen Gesichte noch zu sehen waren. Sofort fiel mir auch die eigentümliche Form seines von wirren blonden Haaren bedeckten Spitzschädels auf. Unter den banalen und stupiden Bubengesichtern war er auf den ersten Blick eine Erscheinung, die mich anzog. Er hatte überdies eine ganz eigentümliche Art, den Kopf hoch zu halten, so als ob er über alles, mit sich beschäftigt und nicht aus Hochmut, hinwegsähe. Dabei schien ihm der Kopf nicht fest auf dem Halse zu sitzen, er befand sich bei jeder Bewegung außer dem Gleichgewichte. Diese Art, das Haupt zu tragen, war einem Balancieren nicht unähnlich, und es hatte den Anschein, als wenn der Knabe dadurch von allen Dingen abgezogen würde.

 

Wie wir miteinander vertraut wurden, kann ich eigentlich nicht mehr sagen. Jedenfalls waren wir bald unzertrennlich und trafen einander auch während der freien Stunden, sei es, daß wir einander zu Hause besuchten oder gemeinsam in öffentliche Gärten und Parkanlagen gingen, wo wir uns abgesondert von den lärmenden Spielen anderer Kinder auf das mannigfachste unterhielten. Vor allem spielten wir mit kleinen Kugeln, deren Karl eine stattliche Anzahl hatte. Es waren da solche aus Glas, die alle Farben zu enthalten schienen und andere einfarbige, die kristallhell waren, dann wieder aus Marmorrestchen hergestellte und schließlich die gewöhnlichen billigen Kittkugeln.

Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß dieser Besitz nicht im geringsten meinen Neid erregte. Ich hätte aber auch gerne farbige Glaskugeln besessen und diesen Wunsch fühlte ich in mir mit aller Leidenschaftlichkeit meines kindlichen Temperamentes. Ich hätte ja meine Eltern bitten können. Dies fiel mir aber damals schon nicht leicht. Denn von allem Anfang her war bei mir jede Vorliebe für eine Sache eine Art heimlicher Verliebtheit, verbunden mit der schamhaften Angst, sie zu verraten. Insbesondere vor denen, die mir meine Freude hätten verbieten können. Ob man dies damals schon durch die Erziehung an mir bewirkt hatte, oder ob dies in meinem Wesen beschlossen lag, weiß ich nicht anzugeben. Jedenfalls trug mir diese Eigenschaft manche ungerechte Beurteilung in meiner Kindheit ein und war eine der Brücken, die mich zur Verschlossenheit und auch Verlogenheit hinüberbrachten. Allmählich kam ich dazu, jede Freude als etwas Verbotenes zu empfinden.

Um aber auf jene Kugeln zurückzukommen: ich hätte also meine Eltern um nichts auf der Welt darum gebeten, mir welche zu kaufen und auch Karl verriet ich meine Wünsche nicht. Aber er – heute noch tausend Dank dafür – mochte er mich erraten, mochte er im wunderbar edlen Instinkte des liebenden Kameraden mich besser gekannt haben als alle anderen – er schenkte mir ein paar von den glitzernden Dingern. Freilich wollte ich sie nicht nehmen. Denn damals schämte ich auch vor ihm mich meiner Freude und ich schämte mich, daß er mich für so arm halten könnte, daß meine Eltern mir die Bagatellen nicht kaufen könnten. Mit dieser doppelten Scham habe ich dann noch oft zu kämpfen gehabt in meinem Leben – damals aber habe ich sie diesem einen einzigen Menschen gegenüber überwunden und seither war alle meine Freude nur mehr mit ihm, und nur ihm gegenüber mochte ich mich so geben wie ich war. – Er hat dann in späteren Jahren alles mit mir geteilt, was er hatte – kein Mensch wußte es – und von ihm habe ich alles angenommen ohne Angst, ohne Scham, ohne Reue. Damals aber, als er mir die Kugeln schenkte, ging ich nach Hause, wo ich – da meine Eltern Gottseidank nicht zu Hause waren – wie ein schuldbewußter Hund in den Winkel eines finsteren Zimmers kroch und weinte. Nicht weil ich die ersehnten Gegenstände besaß, sondern weil mich das Glück, einen Menschen zu haben und Mensch sein zu dürfen, zum erstenmal leise berührt hatte.

Wenn auch nicht infolge, so doch in Gefolgschaft dieses Ereignisses entwickelte sich in mir ein Charakterzug, der mir bis heute treu geblieben ist, selten zu meinem Vorteile, denn das alltägliche Leben, jenes mittlere Niveau, auf welchem sich Tätigkeit und Erlebnisse eines Menschen von mäßiger Energie abspielen, kann die Eindeutigkeit – um diese handelt es sich hier – nicht brauchen. Und diese Eindeutigkeit war mir immer oder wurde mir zu eigen. Ich konnte mich von jeher immer nur einer Sache hingeben und vertrug weder sachlich noch zeitlich ein Nebeneinander von Bestrebungen oder Neigungen. Bei mir schloß immer eines das andere aus und es mußten das eine oder das andere nicht gerade Gegensätze sein, wenn es auch häufig genug die Extreme waren, in die ich abwechselnd und ausschließlich verfiel. Später freilich, wenn man müde wird, versucht man, ob das Zünglein nicht schön in der Mitte zu halten wäre, und ob, wenn man schwarz und weiß mischte, nicht doch ein ganz erträgliches Grau herauskäme – und fängt an zu lügen.

In genannter Eindeutigkeit gab es für mich nunmehr keinen andern Menschen auf Erden als Karl und außer ihm hatte ich niemanden lieb – auch meinen guten Vater nicht; dies kam erst später, als ich fürchten lernte, ihn zu verlieren. Mit ihm war es überhaupt lange eine rätselhafte Sache, über die ich erst im Verlaufe Klarheit geben will.

Was meines Vaters Frau anbelangt so war ich ihr durch die fortgesetzten Gehässigkeiten, die sie mir – wenigstens nach meiner Meinung – zuteil werden ließ, und hauptsächlich durch folgendes Ereignis vollkommen entfremdet.

Es geschah, als ich neun Jahre alt geworden und zum erstenmal bei der Beichte gewesen war. Der Beichtgang war von der Schule aus angeordnet und geleitet worden. Es war vor Weihnachten. Früh morgens – es war noch finster – versammelten wir uns im Klassenzimmer, in dem die offenen rötlichen Gasflammen brannten und sangen. Dann wurden wir paarweise auf den dunkeln, in blaugrauem Morgendämmer fröstelnden Gängen aufgestellt und warteten, bis wir uns dem nächsten Zug, der vor der nebenliegenden Klassentür rangiert wurde, anschließen durften. Dann ging es durch die langen Schulgänge unter möglichst leisem Schlürfen so und so vieler andächtiger oder furchtsamer Knabenschritte hinunter über die breiten Steinstiegen, wo das gedämpfte Schlürfen sofort in ein etwas mutigeres Klappern vieler kleiner Stiefelabsätze überging.

Während dieses lärmenden Hinabsteigens konnte man sich auch ein paar Worte zum Nachbar oder einen kleinen Ulk am Vordermann gönnen. Manche ältere Buben, die die Sache schon kannten, trieben auch insgeheim ihre Späße, ich aber hatte ein solches Bangen vor dem unbekannten Kommenden, daß ich in meiner Beklommenheit kaum etwas sah noch hörte. Auch überlegte ich fortwährend meine Sünden. Alles, wofür ich je gestraft worden, hatte ich mir am Tage vorher bei der Gewissenserforschung zurecht gelegt, aufgeschrieben und auswendig gelernt wie eine Aufgabe und hatte nun nur die einzige Furcht, daß ich es vergessen haben und bei der Beichte stecken bleiben könnte.

Als wir dann über den Kirchenplatz in langen Reihen in die Kirche geführt wurden und links und rechts von unserem Zuge eine Menge Menschen aufgestellt waren, wich diese Angst dem gehobenen, stolzen Kindergefühle, etwas vorzustellen und Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein.

In der Kirche wurden wir in eine Seitenkapelle geführt und in einfachen Reihen links und rechts vor je einem Beichtstuhle aufgestellt. Auch die Kapelle war in tiefem Dunkel. Nur das ewige Lämpchen vor dem Marienaltare zuckte rot in seiner silbernen Ampel, während aus dem Hauptschiffe der Kirche leise Töne der kleinen Orgel immerfort dieselbe rührend schlichte Melodie wiederholten.

Alles dieses – zusammen mit der heiligen Mystik der sakramentalen Handlung – erschütterte mich tief, so daß ich kaum hörbar mein Sündenregister herunterstammelte, als ich endlich darangekommen war.

Als ich aber dann meine Bußgebete verrichtet hatte, war ich gehoben und erleichtert und freute mich hinaus aus der Kirche und auf den schulfreien Tag, der mir bevorstand. Überdies hatte sich inzwischen der Morgen aufgeheitert, purpurgoldene Sonnenkeile schoben sich schräg durch die obersten Rundfenster in die Kirche, trafen auf ihrer Bahn die silberne Ampel des ewigen Lichtes, die in dem sonst noch dämmerigen Gewölbe leuchtend rot und frei zu schweben schien.

Endlich war die ganze Zeremonie vorüber. Wir marschierten dann noch paarweise bis zum Ausgangsportal der Kirche, draußen aber teilte sich der Schwarm nach allen Richtungen. Einzelne wurden von ihren Müttern erwartet, andere trollten sich gruppenweise davon, wieder andere standen herum. Es war ein Gezwitscher und Gesumme auf dem ehrwürdigen Platze, als hätte man hundert Stare losgelassen. Ich suchte in dem Gewimmel natürlich nach Karl und bald wurde ich seines zarten rosigen Mädchengesichtes ansichtig. Da er jedoch von irgend jemandem abgeholt wurde, gingen wir nur das Stückchen bis zu seinem Wohnhause zusammen, ohne einander viel anzusehen oder zu sprechen – ich vor allem, weil ich meiner Gemütsbewegung noch nicht Herr geworden war und alles in mir noch zitterte von dem Erlebnisse.

In dieser Verfassung kam ich nach Hause. Meine Stiefmutter öffnete mir die Tür. Sie fragte mich in einem freundlichen Tone, wie alles gewesen sei und ich, von der seltenen Gütigkeit ihrer Anrede überwältigt, schlang mich um sie und weinte. Nun bestürmte mich die gute Frau, die keine Psychologin war, mit unzähligen Fragen, auf die ich vor lauter Scham über meine Rührung nicht zu antworten vermochte.

Darüber erboste sie sich und meinte, ich habe wahrscheinlich etwas angestellt, aber ich solle es nur sagen.

Bei diesen Worten – es ist mir unvergeßlich – blieb mein Atem, der eben zu einem neuen Schluchzen ausgeholt hatte, mit einem Ruck stehen, die heiße wohlige Welle, die eben in mir aufstieg, staute sich mit einem Schlage zurück. Es war, als wäre eine Feder in mir eingeschnappt, durch die etwas in mir unwiderbringlich verschlossen wurde. Ich sah kaum, wie sich ein zornrotes Gesicht mit zwei bösen rollenden Augen nahe zu meinem Gesicht beugte – wie im Traume hörte ich eine grelle Stimme mich immer wieder anschreien, was ich angestellt habe.

Und ich fühlte keinen Schmerz, als mich dann zwei harte Hände immer wieder links und rechts ins Gesicht schlugen