Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Unter den Weissgärbern
Die alte Josefstadt
Pötzleinsdorf
Geistliche Feste und weltliche Bräuche
Bäckerstrasse, Tanzstunde und erste Liebe
Jugendfreundschaft und grosses Lügen
Nachtstück in der Lenaugasse
Dein Bruder
Der Tod der Mutter
Mein Freund Karl Satter
Der Praterinspektor Huber
Schicksal in Mödling
Der Tod des Vaters
Lebensbericht an Felix Braun
Curriculum vitae 1
Curriculum vitae 2
Aus "Mein Leben"

Nachtstück in der Lenaugasse

Aus „Musik der Kindheit“ von Anton Wildgans

 

Nachtstück in der Lenaugasse 1898

 

Lenaugasse Nr. 19, erste Stiege, zweiter Stock, Tür rechts. Das Haus an der Ecke der Tulpengasse beherbergt um jene Zeit noch die berühmte Walishausser'sche Buchdruckerei, in der Grillparzers Dramen erstmalig gedruckt wurden. Wer den hellen, breiten und freundlichen Flur des Vordertraktes durchschreitet, tritt in einen geräumigen, himmelüberlichteten Hof und steht vor einem Garten Hohe aber schmächtige Bäume ragen auf und im Frühling blühen dort Goldregen, Jasmin und Flieder. Da schlagen auch die Amseln in der Dämmerung der Morgen und Abende und Hunderte von Sperlingen füllen nach dem Regen die laubschütteren Kronen mit ihrem Gezwitscher. Jenseits dieses Gartens aber, das Gevierte des Hofes der ganzen rückwärtigen Breite nach abschließend, erhebt sich zweistöckig eine altersgraue Barockfront. Ein niederes, säulengeziertes Portal gewährt Eintritt in das geheimnisvolle Gebäude, das ehemals ein Kloster gewesen sein mag, und auf dem obersten Gesimse vor dem Mittelfirste wacht, in Stein gehauen, der Erzengel Michael mit goldenem Helme und Schwerte. Vor hundert Jahren, als das Vorderhaus noch nicht stand, mag er über Gärten hinweg und über die alleendurchquerten Rasenflächen des Josefstädter Glacis auf die Schotten- und Löbelbastei geblickt und die schlanke gotische Spitze gegrüßt haben, die das Gotteshaus seines Namens emporhebt. Heute ahnen die Tausende die jahraus, jahrein an der grauen, altmodischen Straßenfront des Vorderhauses vorübergehn, nichts mehr von seinem verwunschenen Dasein.

1898! Die Kindheit mit ihren Leiden und Freuden war vorübergegangen, die Knabenzeit neigte ihrem Ende zu und die letzte Station auf dem Passionswege des Gymnasiums war erreicht. Schon winkte wie der lichte Punkt am Ende eines langen, finsteren und qualvollen Schachtes die Freiheit. Aber bange Schatten hatte das Schicksal unterdessen in das bescheidene aber auskömmliche Leben der Familie geworfen, seitdem der Vater, der Ernährer, krank, hosjnungslos und unheilbar krank war. Nach einer stürmischen Parlamentssitzung, in der er als Referent seinem Minister zur Seite gestanden, war er eines späten Nachmittags nach Hause gekommen, war vor Erregung müde auf den roten Lederdiwan seines mit dem Sohne gemeinsamen Schlaf-und-Arbeitszimmers gesunken, hatte die Hände über der Brust gefaltet und, als er sie wieder von einander lösen wollte, da versagte die Bewegung, da verweigerte sich die Menschensprache der sich entsetzt in sinnlosen Silben überstürzenden Zunge und von dem Manne, der soeben noch auf der Höhe seines Wissens und in der Würde seines Amtes »ein treuer Diener seines Herrn« gewesen, war im Aufzucken eines Augenblickes ein Kind, ein hilfloses, lallendes Kind geworden, dem Gott alles Rüstzeug tätig-wirkenden Lebens genommen und nur das tragische Bewußtsein eines ungeheueren Unglückes für sich und seine Familie belassen hatte. Aber ein stählerner Wille hatte die Katastrophe der Ausdrucksfähigkeit überdauert und dieser Wille versuchte, durch unermüdliches Memorieren einzelner Wörter und kurzer Sätze die Sprache wiederzuerobern, und füllte hunderte von Schülerschreibheften mit unbeholfenen Schriftzügen, die sich aber nur so lange zu vernünftigen Wortgebilden aneinanderelhen ließen, als die Vorlage vor Augen war. Musik meiner Kindheit, Musik meines Jünglingsalters bis zu der Stunde, da der Dulder erlöst ward: Der Vater, ein Zeitungsblatt in der einen und die Taschenuhr in der andern Hand, wandert vom frühen Morgen bis zum späten Abend durch die Zimmer und murmelt rastlos ein und dasselbe Wort so lange vor sich hin, bis er glaubt, es behalten zu haben! Und dann, einen Augenblick später, ist durch irgend eine Ablenkung das soeben Geübte qualvoll-spurlos dem Bewußtsein entschwunden, muß neuerlich vorgesagt werden und das Gemurmel geht weiter, jedes Wort fünf Minuten lang und dann ein nächstes! Und dies durch elf Jahre! Nur die Sehnsucht ist lebendig geblieben, wieder ein vollgültiger Mensch zu wer den, nur die Liebe ist stark geblieben und nimmt in Blicken und Gebärden unendlicher Güte teil an allen Schicksalsdingen des heranwachsenden Knaben, der im selben Zimmer, wo der Vater schläft, bei der kleinen Petroleumstudierlampe über seine Hefte und Bücher gebeugt sitzt. Sinnlos erscheint ihm angesichts dieses ungeheuren Leides und angesichts der Not, die jeden Augenblick in Gestalt einer armseligen Witwenpension über die Familie hereinbrechen kann, alles brotlose Mühen und Schulwissen und nur, um jenes Leid nicht noch zu vermehren, und nur, um das Wunschvermächtnis dieses lebendigen Toten getreu zu vollstrecken, besteht er immer wieder den Kampf mit der brutalen Tücke eines Schulbetriebes, der, an allem Individuellen vorüber, nicht Begabung ermittelnd, sondern bloß Gedächtnis und Nerven prüfend, den »schwachen Schüler« mit seinen lächerlichen und schrullenhaften Autoritäts- und Fachdünkeleien in Selbstmordgedanken hineinquält. Nicht nur einmal in jenen Nächten spielte die Knabenhand mit dem heimlich entliehenen Trommelrevolver, aber immer wieder half der natürlichen Todesfurcht ein Blick auf das nebenan schlummernde Vaterkind nach, um die kühle Mündung von der glühend-pochenden Schläfe abzusetzen. Nein, diese erwachenden Augen durften keine Szene des Grauens mehr erblicken! Nein, dieses Maß menschlichen Jammers war schon gerüttelt vell! Nur so gelang es, sich bis zur Oktava durchzuschlagen und die letzten Kräfte zur Bestehung der Reifeprüfung zusammenzufassen. Ehe es aber zu dieser kam, war noch eine andere zu bestehen, die nicht das Gedächtnis sondern im wahrsten Sinne des Wortes Herz und Nieren prüfte und in anderer Weise auf Leben und Tod ging.

Es war an einem Sonntag zu Anfang November. Am Morgen fand der übliche Schulgottesdienst (Exhorte und heilige Messe) in der kleinen, aber traulichen Privatkapelle des Gymnasiums statt. Die Angehörigen der oberen vier Jahrgänge saßen ohne Rücksicht auf ihre Klassenzugehörigkeit nach freier Platzwahl in den Betstühlen, ein Teil las literarische Neuerscheinungen oder die Zeitung, andere präparierten für morgen, die meisten aber sangen die deutsche Messe von Schubert mit, die der Gesangslehrer der Anstalt, der nachmals bekannte und hochgeschätzte Tondichter Camillo Horn, zum so und so vielten Male auf der Orgel begleitete, mich aber hatte der Zufall an diesem Tage neben den Klassenprimus, einen käsigen, duckmäuserischen und leisetreterischen Betbruder gesetzt, mit dem ich sonst keine zehn Worte während des ganzen Schuljahres zu wechseln pflegte. Plötzlich entstand zwischen ihm und mir – ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen – Streit und, als der Gottesdienst vorüber war, packte ich, der ich niemals vorher einen Kameraden angezeigt hatte, den Burschen am Kragen und schleppte ihn mitten durch die anderen Schüler und ungeachtet des inspizierenden Lehrers wie einen Arrestanten zum Direktor. Dieser Vorgang, den ich in einer Art von Rausch gesetzt hatte, war so ungeheuerlich, daß der Gestrenge zuerst ganz verdutzt dastand und meine Frechheit nicht zu fassen vermochte. Dann aber, ehe ich noch recht dazugekommen war, meine Sache anhängig zu machen, wandte sich sein ganzer Zorn gegen mich, er brüllte mich an, ob ich denn glaube, daß er mein Büttel sei, und wies mir die Türe.

Ich taumelte mehr, als ich ging, nach Hause. Wilde Schreckensbilder von Klassenbuch, schlechter Sittennote, strengen Strafexaminas und Relegation jagten durch mein Gehirn, der Kopf schmerzte mich wütend und zu Mittag widerstanden mir die Speisen. Die Gespräche am Familientische vernahm ich nur wie von ferne aus dem dritten Zimmer. Der Vater, der zu allem anderen Leiden einige Tage vorher an einem Anthrax am Nacken lebensgefährlich operiert worden war, saß mit einbandagiertem Kopf schmerzensbleich und verfallen mir gegenüber, seine besorgten, hilflosen Blicke suchten mich immer wieder forschend, aber sein Mund konnte die Fragen, die ihm quälend auf der Zunge lagen, nicht formulieren und aussprechen. Endlich erhob sich die Familie vom Speisen, ich schwankte zu dem Lederschlafdiwan, der mein Bett war, ins Nebenzimmer und dann, einige Stunden später, erwachte ich auf dem nämlichen Möbelstücke angekleidet, wie ich noch war, mit vierzig Graden Fieber zu einem merkwürdigen Halbbewußtsein, fühlte, wie meine Weste und meine Hemdbrust aufgeknöpft wurden, die Stimme meiner Mutter klang wie aus der Unendlichkeit her in erregungszitternden Fragen und eine andere, wohlbekannte, sachliche und fast sarkastische Männerstimme antwortete: Scharlach.

Was nun folgte, steht trotz meines damaligen Halbbewußtseins und der dreißig Jahre, die seither vergangen sind, mit visionärer Klarheit vor mir und ich werde es wohl auch niemals vergessen: Schritte entfernten sich von mir in Eile und Entsetzen, Türen wurden aufgemacht und zugeschlagen, im Nebenzimmer hub ein aufgeregtes Hin- und Widerrennen an, Kastentüren knarrten und Möbelstücke schienen geschoben zu werden. Es war, als würde in der Wohnung zu irgend einem Aufbruche gerüstet. Und in der Tat wurde der Schlüssel der Nebenzimmertür von außen ein paarmal im Schlosse umgedreht, ein Rascheln von Papier, ein merkwürdiges schlurfendes Streichen folgte und abgerissenen Sätzen entnahm ich, daß die Fugen der Türe verklebt wurden. Dann verstummte auch dies und kein Anruf, kein Wort, das mir gegolten hätte, wurde mehr hörbar. Totenstille. In meinem Zimmer begann es zu dämmern. Von dem kurzen, steilen Abschnitte der Tulpengasse, der unter meinen Fenstern lag, drang das bewegte Licht einer im Novembersturme flackernden Straßenlaterne herauf, geisterte auf dem Plafond, über das blaue Körbchenmuster der Wandtapeten und ich war und blieb mutterseelenallein.

Dieser ganze, ebenso merkwürdige als unheimliche Vorgang wird sofort begreiflich, wenn man bedenkt, daß ich aus der zweiten Ehe meines Vaters eine um sieben Jahre jüngere Schwester hatte, die um jeden Preis vor der Ansteckung geschützt werden mußte. Das Gleiche galt für meinen Vater selbst, der mit seiner noch unverheilten Wunde an gefährlichster Stelle des Nackens ebenfalls vor Infektion zu bewahren war. So hatte tatsächlich ein Aufbruch stattgefunden; denn die Großmutter war mit dem Kinde noch zur selben Stunde in ein nahegelegenes Hotel Garnie übersiedelt, während die Mutter über Anordnung des Arztes sich von nun an ausschließlich der Pflege des Vaters zu widmen und jede direkte Berührung mit mir zu vermeiden hatte. Es war also keineswegs Lieblosigkeit sondern der eiserne Zwang der Umstände gewesen, daß man mich allein gelassen hatte. All dieser Zusammenhang dämmerte mir noch, dann aber versank ich neuerdings in Bewußtlosigkeit. Als ich einige Stunden später wieder zu mir kam, war es bereits Nacht. Meine kleine Petroleumstudierlampe, durch einen grünen Papierschirm gedämpft, brannte auf dem Urväterschreibtische neben meinem Diwan, das Bett meines Vaters, der nun in einem anderen Zimmer schlafen mußte, war in die Mitte des Raumes gerückt und stand weiß und offen zu meinem Empfange bereit, eine leise, dunkle Gestalt, Schatten in Schatten, bewegte sich auf mich zu, ein blasses, schmales Antlitz, von einem schwarzen Schleier und einer weißen Stirnbinde umrahmt, neigte sich über mich und sprach mit einer jenseitig klaren und dennoch fraulichen Stimme zu mir: »Gelobt sei Jesus Christus! Ich bin die Schwester Maria Abelina.«

Scharlach! Der junge, hochaufgeschossene, eben noch von den Stürmen werdender Mannbarkeit durchschütterte Körper wehrte sich gewaltig gegen das Gift und gegen die Heere der weißen Körperchen, die das Fieber gegen die roten in seinem Blute unermüdlich ins Treffen führte, und hielt stand. Da holte sich der Scharlach Bundesgenossen! Furchtbare Hilfstruppen traten auf den Plan: Diphtheritis, Nierenaffekt, Herzbeutelwassersucht, Mittelohr- und Augenentzündung! Nach drei Wochen Krankseins war ein Zustand eingetreten, wo während aller Augenblicke ganzen oder auch nur halben Bewußtseins trockenes Feuer in der Kehle und im Nasenrachenkanal brannte. Die Ohren waren taub, die Augen fast blind und die Flüssigkeit im Herzbeutel preßte den Atem ab. Nur in stechendem Bellen befreite sich die Brust, nur zu keuchenden, pfauchenden Lauten versagte die Stimme. Aber Eis kühlte das Herz, Eis schluckte der Schlund, in dem es wie mit Messern schnitt. Kognak, gegen diese Schmerzen ohne alle Schärfe, durchspülte die Kehle und schuf dem verebbenden Herzschlag immer wieder neuen Antrieb. Aber wie lange noch? Von diesen Qualen halben oder ganzen Wachseins war die einzige und gefährlichste Erlösung – Fieber! Da senkten sich pupurne Schleier über die Seele, flogen auf im unbekannten Sturm, wurden zerrissen und bildeten flutende Gestalten. Ja, es war bisweilen unendlich schön in diesem phantastischen Hintreiben durch Nebel auf Fieberwogen des Blutes! Wahre Opiumräusche des Gehirns, holdeste, bunteste Unwirklichkeiten, aus Elementen des verflossenen Wachlebens zusammengeweht! Liebe Erscheinungen tauchten auf: Annie, Karl! Aber der Vater mit dem weißverbundenen Kopf und dem schmerzensblassen Gesicht, umwirrt vom wild ausgewachsenen, schwarzen Barte, leitete schon zu anderen, beklemmenderen Visionen hinüber. Da war der Direktor: Glauben Sie, daß ich Ihr Büttel bin?! Da war der Mathematiker: Ganz ungenügend! Da war die Maturitätsprüfungskommission unter dem Vorsitze des gefürchtetsten Landesschulinspektors! Aber auch diese Bilder wurden abgelöst und auf einmal fröstelte wimmerndes Orgelspiel durch eine wintermorgenfinstre Kirche, tönte zum Geleier dünner Altweiberstimmen, wie aus einer anderen Welt herüber, in eine Seitenkapelle der Piaristenkirche und dort kniete, vor dem Marienbilde in stilles Gebet versunken, eine zarte, ganz hellgoldblonde Gestalt und merkte nicht oder wollte es nicht merken, daß ein übernächtiger, blasser Knabe, der neben ihr kniete, nach einem einzigen Blick ihrer Augen, nach einem einzigen leisen Streifen ihres Kleides hungerte. Sie war Lehrerin in einer benachbarten Mädchenschule, alle Gymnasiasten verliebten sich in sie und ein feister Augur von einem Katecheten machten ihr auf dem Schulweg den Hof. Das wollte das Herz in Stücke zersprengen! Doch da, während noch kindischohnmächtige Eifersucht alle Foltern probte, ist auf einmal – der Kaiser! Durch die Mariahilferstraße fährt er mit seinem Leibkutscher und dem stadtbekannten Büchsenspanner nach Schönbrunn. Was aber bedeutet dieses?! Der Wagen hält, der Kaiser steigt aus und schreitet elastisch auf einen jungen, schmächtigen Menschen zu, den sein scharfes Auge im Spaliere der Passanten erblickt hat. Dieser aber, der immer Offizier werden wollte, doch immer als dazu »untauglich« befunden worden war – dieser aber wittert den Geruch ungeheueren Glücks! Jetzt – nur ein paar Atemzüge noch! – wird der Kaiser auf ihn zutreten und mit seinem gütigsten Vaterlächeln wird er sagen: »Ich ernenne Sie außertourlich und aus besonderer Gnade zum Leutnant in meinem Artillerieregiment Nummero...« Da, in diesem Augenblicke unmittelbar naher Erfüllung, stampfte eine wohlbekannte, autoritätswahnsinnige Stimme wütend über alle Gnadensaat: »Bis zur Matura werden Sie vielleicht kommen, aber über diese Barre werden Sie nicht springen, dafür werde ich sorgen!«

So, im bald beängstigenden, bald beglückenden Kreislaufe immer wiederkehrend, jagten einander die Gesichte durch dreimal sieben Tage. Dann aber kam die Nacht vom ersten auf den zweiten Dezember und mit ihr die Entscheidung: die Schlacht!

Woher war auf einmal das Meer geflutet über das feste Land? Der Boden schwankt gewaltig unter den Füßen, Sturm pfeift im Tackelwerk und Riesenwogen mit weißen Schaumlefzen springen an die hölzernen Planken. Aber, o Pein, o unbegreifliches Schicksal! Einer, der auf dem Schiffe Auslug hält nach dem Feinde, er ist verurteilt, gegen die eigenen Landsleute zu kämpfen; denn die österreichische Admiralsflagge, sie weht in der gegnerischen Schlachtlinie. Also Verräter, Abtrünniger am eigenen Vaterlande! Da fällt der erste Schuß! Ihm folgt ununterbrochenes Heulen von vielen Breitseiten. Die Geschosse kommen über die Wasserfläche gehüpft wie die Steine beim »Platteln« und jetzt, ein Riesekaliber schlägt ein! Flüche, wildes Durcheinander, Geschrei! Die Fregatte sinkt, Sturzwässer brausen über Bord. Doch da ist plötzlich das feindliche, ach, das österreichische Admiralsschiff ganz nahe. Tegetthoff persönlich steht auf der Kommandobrücke und, während Maste, Schornsteine und Geschütztürme über mir zusammenbrechen, fährt der eiserne Bug des Gegnerschiffes in die hölzerne Flanke des eignen. Ich höre noch das Krachen und Splittern des Rumpfes, sehe noch Flammen aus dem Maschinenraume emporschlagen, dann ein Aufschrei aus hundert Kehlen! Ich springe mit einem verzweifelten Satze auf das Deck des Siegerschiffes, springe zu kurz, eisige Flut umfängt mich und ich – erwache mit den Füßen auf dem winterlich frostigen Parkettboden und mit dem Oberkörper auf dem noch kälteren Ledersofa neben meinem Bette. Maria Abelina ist bemüht, mich wieder dahin zurückbringen, es gelingt ihr, der Eisbeutel wird gewechselt, ein Medikament eingeflößt und dann – es dürfte gegen Mitternacht gewesen sein! – erschien am Fußende des Bettes der Arzt.

Dr. Theodor H., der Hausarzt, besuchte mich in jenem Stadium der Krankheit dreimal des Tages. Er kannte mich von frühester Kindheit auf, hatte an mir zweimal schwere Verletzungen, sämtliche Kinderkrankheiten und drei Lungenentzündungen geheilt. Vielleicht war er mir sogar ein wenig gut, soweit dies seine äußerlich harte und fast mephistophelische Art zuließ. Ich jedenfalls vertraute ihm und blickte zu ihm empor wie zu einem Vater, besonders seitdem ich den meinen als Berater verloren hatte. Daher die kindliche Frage: »Muß ich sterben, Herr Doktor?«

Er mit beinahe sarkastischem Lächeln: »Wir alle müssen sterben!«

Ich, die Frage genauer stellend: »Kann ich diese Krankheit überhaupt noch überstehen?« Er, die Achseln zuckend, mit einer fast wegwerfenden Handbewegung: »Nur Gott ist allwissend!«.

Ich zum dritten Male: »Werde ich diese Nacht überleben?«

Da schien in der Dämmerung des Zimmers seine Gestalt plötzlich zu wachsen; durch scharfgeschliffene, goldgeränderte Zwickergläser richtete sich ein stählernes Augenpaar auf mich, scharf, eindringlich, unausweichlich, dämonisch, und eine harte, sachliche und dennoch nicht ganz unbewegte Stimme sprach, jedes Wort betonend: »Mit anderen würde ich mich auf dieses Thema nicht einlassen, Sie aber kenne ich als philosophischen Kopf und Ihnen sage ich: Wenn nicht ein Wunder geschieht, so werden Sie diese Nacht kaum überleben. Aber – es gibt Wunder!«

Wenn es eine Finte war im Schachspiel mit dem Tode, so hatte sie gewirkt! Wie Feuergarben schoß es im selben Augenblicke durch mein Blut, ich war mit einem Schlage klar wach und Riesenkräfte schienen mir plötzlich gegeben. Ich erteilte noch in Anwesenheit des Arztes meine Zustimmung dazu, daß ein Priester geholt werde, Dr. H. gestattete seinerseits, daß ich meine Eltern sehen dürfe, und dann ging er, von der Schwester geleitet, zur Türe hinaus.

Allein. Meine kleine Petroleumstudierlampe mit dem grünen Pappendeckelschirm verbreitet wieder graugrüne Dämmerung im Gemach, nur aus dem Zylinder wirst sie senkrecht an den Plafond empor einen grellen, scharfumrissenen Mond, der von einem ringsum verblassenden Hofe umgeben ist. Die Wanduhr tickt eintönig und unbeteiligt vielleicht die letzten Minuten meines Lebens und in mir war wunderbare Stille. Nachdem Marie Abelina ins Zimmer zurückgekehrt ist, löscht sie die Lampe aus. Nun knistert wieder das Nachtlicht durch die Dunkelheit. Die Schwester tritt an mein Bett, beugt sich liebevoll zu mir: »Gott wird helfen! Durch sein Sakrament! Beten wir zu ihm!« Sie hatte es wohl schon oft zu Sterbenden gesagt, sie glaubte auch vielleicht nicht einmal an die Hilfe Gottes in diesem Falle und dennoch: es war etwas in diesen Worten, das sie mir unvergeßlich gemacht hat.

Der Kranke liegt nun auf den Rücken hingestreckt in seinem Bette, die Hände sind über der Brust gefaltet wie im Tode, die elfenbeinernen Perlen eines Rosenkranzes kühlen seine heißen, trockenen Finger. Zu Häupten des Bettes aber, auf einem weißen Küchensessel, brennt jetzt eine Kerze. Das ebenholzschwarze Brustkreuz der Ordensschwester mit dem silbernen Heiland darauf ist an den kupfernen Leuchter gelehnt und wie aus Tiefen klingt die leise und dennoch inbrünstige Stimme einer Knieenden: »De profundis clamamus ad te, Domine!« und dann immer ferner, immer unwirklicher, in unendlicher, hypnotisierender Wiederkehr: »Miserere nobis! – Miserere nobis! – Miserere nobis!...«

Gegen drei Uhr morgens ein Glockenzeichen durch die Stille der Nacht: der Priester! Aber Schleier wallten eben wieder durch das Gemach und ich sah zunächst nur wie im Traume, was nun geschah. War es möglich, daß der junge Mesner mit dem übernächtigen Gesichte und dem rotblonden, hinaufgewichsten Schnurrbarte eine weiße Seidenkrawatte mit Brillantnadel trug? Und dennoch, er tat so. Sonst wäre ja auch alles andere, was er nun vornahm, nicht Wirklichkeit gewesen! Und dies war doch Wirklichkeit und paßte zu der Zeremonie! In der Nähe meines Bettes stand der Tisch, der sonst in der Mitte des Zimmers unter der Hängelampe seinen Platz hatte, und nun war er plötzlich mit seinem weißen Linnen überbreitet und darauf glitzerte im Scheine zweier Silberleuchter der hohe goldene Speisekelch, der die letzte Wegzehrung enthielt. Dann verschwanden Mesner und Nonne und ich war mit dem Priester allein. Scharfer Tabakgeruch nahte sich mir, durch Nebel kam ein roter, runder Mond auf mich zu und eine Stimme fragte mich, ob ich bereit sei, zu beichten und das Sakrament zu empfangen. Da war es, als schnappte in mir urplötzlich eine Feder ein, und im nächsten Augenblicke, so schien es mir wenigstens, war ich zum zweiten Male klar wach. Diese Stimme hatte ich erkannt! Und nun dieses Gesicht kannte ich auch und – haßte es! Von diesem das Sakrament?!

Diese innere Auflehnung mocht sich in meinen Mienen gespiegelt haben und dem Priester nicht entgangen sein. Denn er sah mich zuerst eine Weile forschend an, dann aber sagte er: »Wenn es Sie anstrengt, brauchen Sie mir nur zu antworten. Ich werde fragen.«

Und er fragte, ob ich auch außer der Schule den Feiertag geheiliget und der Predigt und Messe beigewohnt habe. Und ich antwortete, daß ich dies aus freien Stücken nur ein einziges Mal getan hätte, und gerade damals habe der Prediger auf der Kanzel nicht von Gottes Wort, sondern von Politik gesprochen und Haß und Verachtung gesät gegen andersdenkende Bürger im Staate. – Er unterbrach mich und meinte, daß die Kirche nicht nur eine Vereinigung der Seelen in Gott sondern auch eine Ecclesia militans sei und daß ihre Widersacher auf Erden nach Legionen zählen. Trotzdem habe jener Prediger nicht recht gehandelt und sei im heiligen Eifer zu weit gegangen, wenn... »Der Prediger waren Sie selbst, Hochwürden!«

Und er fragte zum zweiten: ob ich wohl immer mit gebührender Andacht die heiligen Sakramente empfangen habe, und ich antwortete: daß ich sie empfangen hätte, weil ich sie habe empfangen müssen, und daß ich dabei nicht unehrerbietig verfahren sei. Einmal hingegen hätte ich mich auch innerlich gedrängt gefühlt, eine Schuld zu bekennen, die in meinen Augen größer gewesen sei als alles, was ich jemals früher begangen hatte, und gerade damals habe mir der Beichtiger nicht zugehört, da er mir sonst eine weit schwerere Buße auferlegt und nicht jedes ermahnende Eingehen auf meine Sünde unterlassen hätte. – Er gab zu, daß dies vorkommen könne, beschönigte es aber mit der großen Zahl der Beichtkinder bei den üblichen Schülerbeichten. Trotzdem sei es natürlich nicht in Ordnung gewesen, wenn...

»Jener Beichtvater waren Sie selbst, Hochwürden!«

Und er fragte zum dritten nach dem Gebote wider die Unkeuschheit und, ob ich in Gedanken oder Handlungen, mit Mädchen oder gar mit der Frau meines Nächsten... Und ich antwortete: daß ich nicht stei von Versuchungen, doch unberührt geblieben sei vom Weibe. Aber, selbst wenn dies nicht so gewesen wäre, hätte ich es kaum als Sünde empfunden, da ich ja kein Gelübde abgelegt habe. Hingegen gäbe es andere, siebenfach Geweihte, die trotzdem zum Gaudium der Gymnasiasten den kleinen und großen Mädchen an den Straßenecken aufpaßten...

Diesmal indessen ersparte er mir und sich den Kehrreim! Wie kam er auch dazu, sich von einem siebzehnjährigen Moriturus so schnöde den Spieß umdrehen zu lassen? Aber nur einen Augenblick lang feixte durch die demütige Maske des guten Hirten das höhnisch-böse Lächeln des feisten Augurs von einem Katecheten, dann wurde die Beichte abgebrochen, die Absolution erteilt, Schwester und Mesner hereingerufen und mich umfingen alsbald die erschütternden Schauer des Sakramentes. Meine Lippen empfingen den Leib des Herrn und an Stirne, Händen und Füßen berührte mich das Chrysam des Heiles. Jetzt, als wir uns alle in gemeinsamem Gebete vereinigt hatten, öffnete die Schwester die Flügeltür zu der nebenan liegenden Küche und dort, im grellen grüngelben Lichte der Auerlampe, auf den Steinfliesen neben dem kachelblauen Herde, knieten meine Eltern: die Mutter, die mir im Laufe der Jahre wirklich eine solche geworden, vermochte ihr Schluchzen nicht zu verhalten, der Vater, nun schon ohne Verband aber mit dem Ausdrucke unsäglichen, hilflosen Leidens, streckte die Hände nach mir aus, seine Lippen wellen etwas sagen und können es nicht. Da übermannt auch ihn die Verzweiflung zu einem langhingezogenen, wimmernden Schmerzenslaut, indessen ich meinen Eltern für alles danke und sie für alles, was ich ihnen jemals angetan, um Verzeihung bitte. Dann schreitet der Priester an den Knieenden vorüber, tröstet, segnet sie, der Mesner folgt ihm, die Tür in die Küche wird geschlossen und ich – hatte Abschied genommen vom Leben. Aber meine Augen waren trocken geblieben. Eine wundersame, fast verklärte Wachheit erfüllte mich, die Beklemmungen des Herzens waren gewichen, nichts tat mir weh, nichts ängstigte mich. Gott wollte es mir, so schien es, leicht machen, ich fühlte mich schwerelos, schwebend und dann, während Maria Abelina meine Hand in der ihren hielt, ward ich hinweggenommen von dieser Erde in einen tiefen, traumlosen Schlummer.

Aber das Schicksal hatte es anders mit mir gewollt, als ich selbst und die andern es vermeint hatten. Denn als ich am nächsten Morgen erwachte, war mir freier zumut als sonst beim Erwachen. Alle Hitze schien aus mir verschwunden und es fröstelte mich. Weißes, kaltes Winterlicht flutete ins Zimmer und vor der Fassade des gegenüberliegenden Hauses hingen unbewegt eine rotweiß-rote und eine schwarz-gelbe Fahne. Und da, fast im selben Augenblicke, als ich sie wie etwas Geträumtes gewahrte, erklang von ferneher der prickelnde Marschtakt von Trommeln. Maria Abelina deckte mich rasch bis zum Kinn hinauf zu und öffnete das Fenster. Und da war auch schon die große türkische Trommel mit den bekannten fünf einleitenden Schlägen eingefallen und im nächsten Augenblicke schmetterte und wirbelte unten in der Lenaugasse eine Militärmusik. Es war der 2. Dezember 1898, der Tag des fünfzigsten Regierungsjubiläums des Kaisers! Farben wehten von allen Giebeln und Regimentskapellen durchzogen am frühen Morgen die Innere Stadt und die Vorstädte. Und da – warum sollte ich es verschweigen?! – blühte auch meinen Augen, die noch kurz vorher trockener Wimpern Abschied genommen, die Träne und Maria Abelina weinte mit mir. Der Tod war vorübergeschritten, die Krisis überstanden und unter den Siegesklängen des Radetzkymarsches ging es wieder zurück ins Leben!

Die Genesung machte nun rasche Fortschritte, jeder Tag brachte neuen beseligenden Zuwachs an Kräften und jene Zeit glich einem wahren Triumphzug von Morgen zu Morgen. Da erwachte in mir allmählich auch wieder der alte Übermut und mit ihm, der selten guttut, der Hang zu Versen. Ein wahres Frühlingsgewitter von Gedichten im Stile Eichendorffs, Lenaus und Heines entlud sich aus mir. Weil aber die Zettel, auf die ich sie, noch mehr liegend als sitzend, hinkritzelte, gefährlichste Bazillenträger gewesen wären, so ereilte sie alle der gerechte Tod in den Flammen. Nur ein paar Hymnen religiösen Inhaltes, die ich auf Bitten Maria Abelinas (aber auch aus echtem eigenen Gefühle) zu den Melodien verfaßt hatte, welche die Nonnen sonst mit lateinischen Texten sangen, wurden von jener der Schwester Oberin vorgelegt und von dieser zugelassen. Und so singen denn vielleicht auch heute noch edle Dulderinnen, die in wahrer Nachfolge Christi ihr Leben dem Dienste an Kranken weihen, die Strophen eines damals Siebzehnjährigen, die dieser heute wohl selbst kaum als die seinen wiedererkennen würde. Den gütigen Engel aber, der mir in der Stunde des Absterbens die Hand gehalten, habe ich nie wieder gesehen. Bei einem Besuche in dem kleinen, lichten Kloster weit draußen auf der Simmeringer Hauptstraße hatte ich Maria Abelina nicht angetroffen. Oder hatte sie die bescheidene Freude, ihren genesenen Pflegling wiederzusehn, auch »opfern« wollen, wie sie sich, über die Strenge ihrer Regel hinaus, alles abbrach, was ihrem Leben auch nur ein wenig irdische Wärme verliehen hätte?! Dem Priester hingegen, der mir die letzten Sakramente gespendet, bin ich noch oft begegnet. Er sah mich das erste Mal sichtlich überrascht an, dankte mir aber dann für meinen Gruß mit unverhohlener Freundlichkeit und Freude. Offen bar hatte er mir die trotzige Beichte, bei der ich mehr des Splitters im Auge meines Nächsten als des Balkens in meinem eigenen geachtetet hatte, christlicher, als ich es gewesen, verziehen! Und so denke ich denn, auch mit seinem Schatten versöhnt, an jene Nacht zurück. Sie wäre beinahe das Ende meines Lebens geworden, und ward durch die Gnade, die über mir waltete, bloß das Ende meiner Kindheit. Erst viele Jahre später habe ich ihr ein kleines Denkmal gesetzt. Es heißt »Todeserlebnis«, ist ein Sonett und bilde den Ausklang:

 

Ich denke dich an jedem Tage, Tod!

Seitdem ich dich in Knabennächten fühlte

Und nah dein Hauch mir fast das Herz verkühlte,

Bist du mir weder Schauder mehr noch Not.

 

Das Sakrament, das mir der Priester bot,

Indessen Fieberglut mein Blut durchwüh!te

Und Nebel von Gesichten mich umschwülte,

Schien der Erlösung himmlisch Mannabrot.

 

Ich schloß die Augen, hörte wie im Traum

Die Klosterschwester De profundis beten,

Die Sterbekerze geisterte im Raum.

 

Aus blauen Körbchen reichten die Tapeten

Mir Früchte her, es hob mich auf wie Flaum

 

Und meiner Seele goldne Flügel wehten!