Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Unter den Weissgärbern
Die alte Josefstadt
Pötzleinsdorf
Geistliche Feste und weltliche Bräuche
Bäckerstrasse, Tanzstunde und erste Liebe
Jugendfreundschaft und grosses Lügen
Nachtstück in der Lenaugasse
Dein Bruder
Der Tod der Mutter
Mein Freund Karl Satter
Der Praterinspektor Huber
Schicksal in Mödling
Der Tod des Vaters
Lebensbericht an Felix Braun
Curriculum vitae 1
Curriculum vitae 2
Aus "Mein Leben"

Dein Bruder

Eine Kindheitserinnerung aus dem Jahre 1883 von Anton Wildgans

 

 

 

Erst war unendliches Gewoge von Lichtern und Schatten, von Klängen und Lauten, von leiblich-wohligen und leiblich-peinvollen Empfindungen, die ineinander übergingen, wie viele Wellen einen Strom bilden. Dann, eines Erwachens, war plötz­lich ein Ding da, die Lust an diesem Einen, Grenzbaren, die Begierde darnach und das große Glück, es zu ergreifen und wieder fallen zu lassen. Warme Hauche neigten sich her und waren allmählich unterscheidbar mit immer wacheren, noch tierisch-feinen Sinnen. Stimmen tasteten heran, beruhigende und erschreckende, und die Welt ringsumher ward riesengroß und nicht mehr ganz geheuer: ein Dunkles, Drohendes, was viel später erst Kasten hieß, ein Dickicht von glatten, kühlen Stämmen, die vielen Sesselfüße um den Tisch herum, und über Wänden aus unzähligen blauen Körbchen mit Tapetenblumen spannte sich, ein trübweißer Himmel, die Decke. Draußen aber vor dem Fenster, in dessen wandbreitem, vielfach dunkeldurch­kreuztem Viereck seltsame Bewegung war von goldenen und grauen, von schneeweißen und purpurnen Gebilden, ragte auf einmal ein Zartes, Grünes aus ungekannten Tiefen, trug rosige Leuchter aus Blüten, und ein schwarzer Vogel mit gelbem Schnabel wiegte sich darauf und klang mit der Stimme der Engel.

 

Und wieder eine Ewigkeit verging. Wie aus Brunnenschach­ten die Eimer steigen und den Himmel spiegeln in ihren zit­ternden Tiefen, kam es immer wieder herauf, und sank es immer wieder hinab — die Tage. Und es geschah etwas, das

ganz neu war: kleine Häuschen auf Rädern, denen furchtbar große Holzpferde vorgespannt waren, bewegten sich von «ei­ber, ohne mit einer Schnur gezogen werden zu müssen, und Riesen lärmten vorüber, die blitzende Gefäße in Händen und sich an den Mund hielten, und wieder so ein Spielzeugpferd, aber viel kleiner als die ändern, zog auf einem Wägelchen eine große Trommel, und einer ging bunt dahinter her und schlug sie. Das war schön, lustig und schauerlich zugleich, und es war gut, daß die Mutter einen langen, braunen Mantel trug, in dessen Falten man sich verbergen konnte; denn schon war Mantel und Mutter.

Und das unendlich Flutende um einen herum, dieser rätsel­hafte, unvermittelte Wechsel von Farben, Lauten, Dingen und Bildern wurde immer bestimmter und beglückender! Gefühl der Kraft war, wenn man hingeplumpst war und sich aus eigenem wieder aufrichtete! Rausch des Triumphes war, wenn man, allein gelassen, das weiße Fensterbrett erklomm und förmlich zwischen Himmel und Erde schwebte. Man hätte nur die Händchen auszustrecken gebraucht und hätte die weißen Lämmchen gehascht im Blau, und ewig unerfindlich blieb es, daß so wonniges Beginnen die gefürchtete Rute vom hohen Kastensimse herunterlockte, die böse Rute mit ihren leise knisternden und prickelnd-brennenden Schlägen.

Dann aber, eines Abends, war es da, das große, das unge­ahnte, das erste Erlebnis. Nie noch vorher waren die Stunden des Nachmittages so lange und einsam gewesen wie damals. Niemand brachte die Jausenmilch, die Äpfel hinter den Schei­ben des Glaskastens blieben unerreichbar, der rote Tanz der kleinen Flammen im Ofen wurde nicht angefacht, und Schau­der der Kälte wechselten mit Wehgefühlen des Hungers. Durch die versperrte Tapetentür aber, jenseits derer das eigene Git­terbettchen zu stehen pflegte, kamen bisweilen noch niemals gehörte Schreie. Es war zum Fürchten und Weinen. Aber man hielt sich, man gab sich nicht nach, war ein Bub und tapfer.

Da endlich ging die Tür auf, war ein Gevierte matten Lich­tes inmitten der finsteren Wand, und der Vater stand da, er­griff die kleine, angstfeuchte Hand und, Stille gebietend, zog er einen in die Dämmerung einer grünverhangenen Lampe. Ein scheuer Blick streifte die Mutter: sie lag mit geschlossenen Augen in ihrem großen, weißen Bette und schien zu schlafen. Neben dem Bette aber, auf zwei aneinandergeschobenen Ses­seln stand der wohlbekannte geflochtene Wäschekorb, in dem man selbst unzählige Male schlittengefahren, und in dem Korbe lag mit einem ganz kleinen, verschrumpften roten Gesichtlein, ein blaubebändertes Spitzenhäubchen auf dem win­zigen Puppenkopf — wie riesenhaft kam man sich selber vor bei solchem Anblick?! —, lag mit zwei winzigen Händchen über der Decke ein rasch und lautlos atmendes Etwas, und die dunkle Stimme des Vaters klang hoch vom Himmel her ge­dämpft das völlig neue und noch unverständliche Schicksals­wort: Dein Bruder!