Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Unter den Weissgärbern
Die alte Josefstadt
Pötzleinsdorf
Geistliche Feste und weltliche Bräuche
Bäckerstrasse, Tanzstunde und erste Liebe
Jugendfreundschaft und grosses Lügen
Nachtstück in der Lenaugasse
Dein Bruder
Der Tod der Mutter
Mein Freund Karl Satter
Der Praterinspektor Huber
Schicksal in Mödling
Der Tod des Vaters
Lebensbericht an Felix Braun
Curriculum vitae 1
Curriculum vitae 2
Aus "Mein Leben"

Geistliche Feste und weltliche Bräuche

Aus „Musik der Kindheit“ von Anton Wildgans


Geistliche Feste und weltliche Gebräuche

 

 

Der Christ, insonderheit der katholische, wiederholt in jedem Jahre zwischen Maria Geburt und Fronleichnam den Lebens- und Leidensweg seines Herrn und Heilands, indem er die Feste, die ernsten und freudigen, begeht, die ihm die Kirche gleichsam als Meilenzeiger an jene Via dolorosa sive triumphalis eingesetzt hat. Weil aber zu allem, was der Mensch selbst in noch so frommer Absicht tut, auch der Teufel, wie man bei uns in Wien sagt, seinen Kren dazu gibt, so ist es mit der Zeit vielfach so weit gekommen, daß das weltliche Beiwerk der heiligen Feste deren überweltlichen Sinn überwuchert. Genau so, wie es der wilde Efeu bei dem kraftstrotzendsten Baume dahin bringt, daß er alles Eigenleben einbüßt, um schließlich abgestorben seinem Blutsauger als Stütze zu dienen. Ja, mehr noch als dies! Der Sinn mancher geistlicher Gedenktage hat sich mitunter fast in sein Gegenteil verkehrt, zumindest was die  Art betrifft, in der sie gefeiert werden. Die Nacht, in der unser Erlöser in Armut und Niedrigkeit geboren wurde und bei Ochs und Esel in einem bescheidenen Futterkripplein lag, pflegt dadurch begangen zu werden, daß, wer es kann, ganze Basare von lauter höchst kostspieligen und unbescheidenen Sachen aufstapelt und daß alle Fähigkeit, sich zu freuen, von der Heilsbotschaft der Engel auf jene Dinge der Weltlust abgelenkt wird. Und wenn um die Mitte dieser Nacht in einer Großstadt die Christmette abgehalten wird, so freuen sich darüber am meisten die Taschendiebe, die bei solcher Gelegenheit in anderer Weise als der heilige Apostel Petrus ihre Fischzüge ausführen, indem sie den Leuten, die auch nicht so sehr wegen des Gloria in excelsis Deo als wegen der nächtlichen »Hetz« zur Kirche gekommen sind, die Börsen und Brieftaschen ziehen. Was aber gar die Fasttage anbelangt, an denen der Christenmensch den Leibgurt enger schnallen und zumindest nichts Warmblütiges verzehren sollte, so hat Satanas dem Gebote zum Spott hier sein Meisterstück vollbracht, indem er speziell für die Wiener den gebackenen Karpfen erfunden hat, den diese mit beiweitem sündhafterer Gaumenlust schnabulieren, als sie ihr wochentägliches Rindfleisch verzehrt haben würden, obwohl sie auch bei diesem die Hoffart so weit treiben, daß jeder echte Wiener auf sein besonderes »Gustostückerl« versessen ist wie der Teufel auf eine arme Seele. Wozu noch zu bemerken wäre, daß alle diese Gustostückerln ihre eigenen, oft geradezu babylonisch klingenden Namen wie Beiried, Hieserschwanz oder Kruspelspitz führen, Namen, die der eingeschworene Rindfleischesser mit nahezu fetischistischer Zärtlichkeit auf die Zunge nimmt. Der gebackene Karpfen aber am Heiligen Abend und am Karfreitag, in der rituellen Zusammenstellung mit Erdäpfelsalat, bleibt für den Wiener der Gipfel der fastenwidrigen Sinnenfreude und ist dergestalt so recht das Symbol dafür, wie man den Teufel durch Beelzebub austreibt und wie die Menschen allerwegen den vermaledeiten Ast so heranzubiegen wissen, daß ihnen die verbotene Frucht recht bequem in den Mund hängt und sie nachher sagen können, der Apfel und nicht, der nach ihm geschnappt, sei am Sündenfalle schuld gewesen. So wird es wohl überall auf der Welt sein und nicht nur in Wien und somit, liebe Landsleute: Nichts für ungut!

 

 

 

Wenn ich den Anfang der Zeit, in welche die meisten christlichen Erinnerungstage fallen, auf das Fest Mariä Geburt verlegt und als deren Ende Fronleichnam bezeichnet habe, so möchte dies dem Kenner des Kirchenjahres und seiner Feiertagssymbolik recht willkürlich erscheinen und so ist es auch. Und dennoch hatte ich meinen guten Grund dafür.

Denn ich schreibe diese Betrachtungen nicht als Liturgiker, sondern vom Gesichtspunkte meiner Kindheit aus und für diese galt als Anfang der Periode, in der einem Feste erst so recht zum Bewußtsein kamen, der Beginn jenes alljährlichen Leidensweges, den man das Schuljahr zu nennen pflegt, während Fronleichnam dessen baldiges Ende aufs freudigste vorausfühlen ließ. Kommen dann doch nur mehr Peter und Paul am 29. Juni! Da aber war einem schon alles »wurscht«; denn entweder man hatte seinen »Sechser« in Mathematik bereits oder man hatte ihn nicht. Zu ändern war da nichts mehr und in dieser fatalistischen Stimmung ging das Fest der Apostelfürsten genau so gut unter wie Mariä Himmelfahrt am 15. August im Freudenüberschwange der Sommerferien. Während dieser bedeuteten schon bei weitem mehr: der Annentag am 26. Juli und Kaisers Geburtstag am 18. August. Ersterer, weil da vom sinkenden Abend an bis tief in die Nacht hinein Raketen vom Kahlenberg aufstiegen, der letztere, weil es da in jeder Sommerfrische auch Feuerwerk, Lampions und ein besseres Essen gab, und vor allem deshalb, weil dies der einzige Kaisertag des Jahres war, an dem einen keine Schule der Welt zwingen konnte, in beschämender Paarweisheit zur Kirche zu gehen. Nun aber zu den Festen und, wie sie in meiner Kindheit gefeiert wurden, selbst!

Das erste im Schuljahr war das des heiligen Leopold, des Landespatrones von Niederösterreich. Darüber aber kann ich aus meiner frühen Erinnerung nichts aussagen, erstens weil man in jenen altmodischen Läuften Kinder aus »besseren Familien« zu dem heidnischen Kult des »Faßlrutschens« in Klosterneuburg nicht mitgenommen hat, und zweitens, weil es auch überflüssig ist, darüber etwas auszusagen. Denn die angeheiterten Spießbürger der Achtzigerjahre dürften sich dabei nicht viel anders benommen haben als die jetzigen; nur daß diese es nicht mehr so nötig haben, zum Faßlrutschen zu fahren, da ihnen die heutige Mode das Vergnügen, den Damen bis über die Knie zu sehen, weit müheloser verschafft.

Das nächste Fest im Schuljahr war der 2. Dezember, der Tag des Regierungsantrittes des Kaisers. Es zeichnete sich, besonders für den Gymnasiasten, dadurch aus, daß an seinem frühen Morgen die gefürchteten Herren Professoren in ihren Staatsbeamten-Galauniformen mit Dreispitz, goldenen Aufschlägen und Galanteriesäbel zum Festgottesdienst erschienen, was die grimme Komik dieser Schreckgestalten für die grausame Beobachtungsgabe der Knaben um ein Beträchtliches erhöhte. Wir hatten unter ihnen einen für Geschichte und Geographie, der in früheren Tagen das Leben der Südseeinsulaner erforscht hatte. Ehre übrigens seinem Angedenken! Denn er konnte, wenn der Vater des Schülers eine höhere Rangklasse bekleidete als er, – und dieses Glück hatte ich durch alle acht Jahre! – sehr wohlwollend sein. An Kaisertagen aber pflegte er mit einer solchen Tracht exotischer Orden geschmückt aufzutreten, daß er einem Preisboxer ähnlicher sah als einem Pädagogen.

Das nun folgende Fest des frühen Winters war und ist das des heiligen Nikolaus, in Wien kurzweg »Der Nikolo« genannt. Es wurde damals nicht viel anders begangen, als wir es noch heute unseren Kindern bereiten. Heiliger und Satanas, jener mit wallendem Wattebart als Bischof, dieser mit roter Stoffzunge und Rute, einem Rauchfangkehrer nicht unähnlich, erschienen am Nachmittag des 5. Dezember, wenn es schon finster war, unter Kettengerassel für die Schlimmen und mit allerhand Süßigkeiten für die Artigen in der Stube der Kleinen. Heute in der Zeit der Halbwattlampe dürfte dieser Zauber selbst bei den Jüngsten nicht mehr allzusehr verfangen; damals aber brannte noch die Petroleumstehlampe, mehr Dämmerung als Licht verbreitend, vom Kasten herab und, wenn man etwa noch nach der Bescherung auf einen Spaziergang mitgenommen wurde, so war die Stadt plötzlich voller Buden geworden. Sowohl um St. Stephan als auch um die Kirchen der Vorstädte standen sie herum, den Zelten von Magiern und Sternguckern vergleichbar. Die scharlachrote Glut flackernder Kienspäne und die blasse offener Kerzen übergeisterte die bunten und wohlriechenden Gebirge jenes Backwerkes, das man in Wien und Osterreich Lebzelten nennt, und dieser Duft nach Zuckerguß und zarten Gewürzen vermischt sich am Nikolotage zum erstenmal im winterlichen Jahre mit jenem der Wachslichter und Tannenbäume, die in der Nachbarschaft der Buden von da an zum Verkaufe ausgestellt zu werden pflegen. Das macht den heiligen Nikolaus zum rechten und echten Vorläufer des Christkindes und, war der eine gnädig gewesen, so konnte man immerhin hoffen, daß auch das andere nicht mit leeren Händen kommen werde. Wenn man nur – brav war!

Ja, wenn man nur brav war! Dieses Wort, von Eltern so leicht zu sprechen und von Kindern so schwer zu leben, es war und ist wohl auch heute noch der ewige Kehrreim zwischen dem 6. und 24. Dezember! Wenn du brav bist, so bringt dir das Christkind vielleicht...! Was denn? – Einen neuen Anzug! Das regte nicht besonders auf; denn gerade auf Anzüge legte man im Zusammenhang mit dem Christkinde eigentlich wenig Wert. Ein Paar neue Schuhe! Auch das verfing nicht sonderlich. Einen Hosenträger! Die ersten Taschentücher! Das ließ sich schon eher hören; denn das waren doch wenigstens Embleme der Männlichkeit, des Erwachsenseins! Erst die ganz schwache, durch viele Bedingungen, Einschränkungen und Vorbehalte verklausulierte Möglichkeit, daß es am Ende eine Eskadron Dragoner oder eine Kompagnie bosnischer Infanterie geben könnte, versetzte die kindliche Phantasie in Fieber. Und dann, wenn die Zauberglocke endlich geläutet hatte, wenn die geheimnisvolle Tür aufging und der Märchenbaum mit den stillen, harzduftenden Lichtern, überflittert von Flimmerfäden und Silbersternen, über alle Träume schön vor einem stand, dann hatte das Bravsein immer gerade nur für die eine oder die andere Unumgänglichkeit ausgereicht, vielleicht auch noch für den Hosenträger oder ein halbes Dutzend Taschentücher. Die Bosniakenkompagnie aber war auf einen Zug zusammengeschrumpft und die Eskadron Dragoner...? Da stieg es mitten im Lichterglanz plötzlich in pochenden Wellen aus der Tiefe der Brust, das Herz schien sich mit Weh vollzusaugen wie ein Schwamm und in den Augen flimmerten mannhaft zurückgehaltene, aber um so heißere Tränen. Die guten Eltern hielten es natürlich für eitel Dankbarkeit und Rührung, in Wirklichkeit aber war's wohl Scham, Zerknirschung, Trotz. Und darum sage ich: Einmal im Jahre muß es auch für das Kind die heiligen Hallen geben, in denen man die Rache nicht kennt! Einmal im Jahre muß der Augenblick möglich sein, in dem der Vater nicht der Büttel des Schulmeisters ist, und das Wort »Nichtgenügend« darf nicht fallen in der Nacht, da die Engel den Hirten sangen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind!« Denn an gutem Willen hat es noch keinem Kinde gefehlt zwischen Nikolo und Christkind.

Indessen, ich bin in den Fehler verfallen, daß ich das Evangelium vor der Epistel gelesen habe, und so kehre ich denn wieder zurück zum Gloria, das dies falls gleichbedeutend ist mit dem Sonntag, der die Weihnachtswoche einleitet und der in Wien bekanntlich der »goldene« genannt wird. An ihm sind alle Geschäfte von morgens bis abends geöffnet und er ist es, an dem die Wiener alten Schlages mit den Weihnachtseinkäufen begannen. Daß da jede Familie ihre bestimmten Stammfirmen hatte, bei denen man einzig und allein schon deshalb einzukaufen hatte, weil bereits Eltern und Großeltern dort Kundschaft waren, ist selbstverständlich. So wurde in meinem Elternhause der Lebzelten nur beim »Süßen Löchel« in der Rotenturmstraße, der Weihnachtsstritzel nur beim Hofbäcker Breunig und der Silvesterpunsch nur bei den »Drei Laufern« am Michaelerplatz bezogen, ebenso wie man um die Peregrinikipfeln in die Servitengasse auf dem Alsergrund und um die Mandelbögen zum Trenczensky in die Wollzeile pilgern mußte. Den Sündenbraten aber, durch den man sich neben Gott ein zwar nicht geschnitztes, aber aus Schweineschmalz herausgebackenes Bild machte, um dasselbe am Fasttage anzubeten: den Karpfen pflegte mein Vater als leidenschaftlicher Angelsportler persönlich einzukaufen und zwar ausschließlich am Schanzel. Und wenn ich »brav« war, durfte ich ihn dahin begleiten. In Wahrheit aber riß ich mich gar nicht so sehr darum; denn... Doch davon später!

Das Schanzel, im Wienerischen so viel wie kleine Schanze, war ehemals jener Teil der Bastei, durch den in der Gegend der Roßauerlände das sogenannte Schanzeltor zum Donauarm hinunterführte. Adalbert Stifter läßt seine drei Studenten, die von Linz her den Strom herabgefahren waren, ihr Reisegepäck am Schanzel landen und ältere Einheimische erinnern sich noch, daß dort die Obstschiffer aus Oberösterreich anzulegen pflegten, um ihre Ware an Ort und Stelle im Großen loszuschlagen. Mir selbst ist jene Gegend, die man damals so benannte, nur mehr als weihnachtlicher und österlicher Fischmarkt in Erinnerung. Auf einem schmalen mit Bäumen und Sträuchern bestandenen Uferstreifen zwischen Franz Josefs-Kai und der steilen Grasböschung, die zum Flusse abfällt, waren da in ziemlich willkürlichem Durcheinander viele Stände errichtet und die ganze Anlage, die dem zufälligen Überbleibsel einer Au nicht unähnlich sah, roch nach Fischen, die, teils noch lebendig, in Bottichen aufbewahrt, teils bereits geschlachtet, auf Verkaufstischen ausgelegt waren. Dieser Geruch nun nach fauligem Wasser und Tang, der Anblick des vielen Blutes, das allenthalben von Hackstöcken und -brettern floß, die Todeszuckungen der Tiere, die man mit Holzschlägeln abschlug, die klaffenden ausgeweideten Leiber, die starren, bösen Augen all dieser silberschuppige Leichname, von denen man rottriefende Scheiben hackte, verursachte mir ein Grauen und Übelsein, das nur notdürftig durch das Phantastische dieses Marktes gemildert wurde. Denn Fackeln und Windlichter aller Art überflackerten in der frühen Winternacht mit Glut- und Schattenflecken die Gesichter der Händler und ihrer feisten, schreienden Weiber. Grelle Reflexe zuckten und züngelten aus den Pfützen zergangenen Schnees und Spülichts, streiften das Metall der Wagschalen, in die unaufhörlich schwarze, eiserne Gewichte klirrten, und, wenn wie zumeist ein scharfer Dezemberwind blies, so hüllte er das ganze Treiben in eine aufregende und gespenstische Musik der knatternden Plachen und ächzenden Zweige. Das ärgste aber war mir, daß ich den von meinem guten Vater nach langem, sachverständigem Feilschen erhandelten Kadaver, der meist nur lose in braunes, nasses Packpapier eingeschlagen war, nach Hause tragen mußte. Diese väterliche Falschheit, die mein »Bravsein« nur zum Vorwand nahm, um das widerwärtige Paket nicht selber schleppen zu müssen, und die ich sonnenklar durchschaute, erboste mich besonders. Jedenfalls hätte mich am anderen Tage keine Gewalt der Erde dazu vermocht, auch nur einen Bissen vom Fisch oder auch nur einen Löffel von der als Delikatesse verschrieenen Fischbeuschelsuppe zu mir zu nehmen. Da mir aber in meinem Elternhause, wie man in Wien sagt, keine »Extrawürste« gebraten wurden, so war ich am Fastenmittag der einzige in der Familie, der wirklich fastete. Dies ist der Grund dafür, daß ich, seitdem ich selbständig geworden, an Fasttagen mit Vorliebe – Fleisch esse und trotzdem nicht minder zur Seligkeit zu gelangen hoffe als sämtliche Karpfenesser Wiens vom Kardinal-Erzbischof abwärts!

Die nächste Freudeninsel im Leidensmeere des Schuljahres war das Osterfest. Zwar, der Fischeinkauf ereignete sich auch vor diesem, war aber einigermaßen gemildert durch die schönere Jahreszeit und durch die Spannung, mit der man den eigentlichen feierlichen Ereignissen entgegensah. Sie begannen in der Mitte der Karwoche mit den Lamentationen in der Minoritenkirche, zu denen mich der Vater regelmäßig, einer alten Familientradition folgend, mitnahm. Diese Zeremonie, bei der bleiche Mönche in völliger Gebetversunkenheit monotone lateinische Texte sprachen und immer wieder von der Höhe des Chores herab seltsam melodische Gesänge als Antwort erhielten, stand freilich in einem düsteren Gegensatz zu der sonstigen fröhlichen Festlichkeit, die der Gründonnerstag, wenigstens für den Knaben, hatte. Gründonnerstag! War nicht schon dieser bloße Name etwas Mildes, Versöhnendes und Hoffnungsvolles? Und hatte sich dies nicht auch schon in der Speisenfolge des Mittagmahles ausgedrückt? War es doch ausgeschlossen, daß es da nicht eine würzige Kräuterbrühe gegeben hätte, die den verheißungsvollen Namen »Frühlingssuppe« führte! Und in der Tat, in ihrem durch Rahm und Dotter vermilderten Geschmack war das unsäglich beglückende Arom von Löwenzahn-, Primel- und Veilchenblättern, von Kerbelkraut und Sauerampfer, mit einem Wort, das ganze Grünen und Duften der Frühlingswiese und der jungen Erde. Der Suppe aber folgten Semmelschnitten, in Milch geweicht und samt einer Fülle aus Kalbshirn im Schmalz gebacken, ein Gericht, das im Volksmund »Bofesen« genannt, von der berühmten Katharina Prato aber richtiger – denn es soll seinen Namen bis auf die Schlacht bei Pavia 1525 zurückleiten! – »Pafesen« geschrieben wird. Dazu war junger Spinat ebenso unerläßlich wie zum warmen Schinken am Ostersonntag.

Am Morgen des Karfreitages fand und findet in allen Kirchen Wiens die symbolische Grablegung des Erlösers statt. Die Glocken läuten nicht, denn sie sind bereits am Gründonnerstag, wie man zu Wien sagt, nach Rom geflogen und man sollte glauben, daß dies ein Tag der Einkehr wäre für alle, ein Tag, an dem jede weltliche Neugier auf andere und alle Luft, sich selbst zur Schau zu stellen, zu schweigen hätte. Das war jedoch schon zu Stifters Zeiten nicht so und auch im Wien meiner Kindheit war es anders. Denn den Höhepunkt des Kreuzigungstages bildete – zwar unter dem frommen Vorwande des Gräberbesuches! – eine höchst mondäne Veranstaltung: der sogenannte Karsteitagsbummel von der Kärntnerstraße über den Graben auf den Kohlmarkt und wieder zurück. Und da war zwischen vier und sechs Uhr nachmittags alles vereinigt, was in Wien Rang und Namen hatte oder als schlichter Bürger seine Zugehörigkeit zur großen Familie aller Wiener betonen wollte. Selbst die Herren Erzherzoge, die man sonst nur in goldrädrigen Wagen aus ehrerbietiger Entfernung zu erblicken gewohnt war, gingen an diesem Tage wie andere Sterbliche zu Fuß und mischten sich leutselig unter das Volk. Der echte Wiener von damals war entzückt, diesen durchlauchtigsten Gestalten wenigstens einmal im Jahre so gemütlich zu begegnen, sprach von ihnen mit ihrem Vornamen und zeigte sie seinen Kindern. Was ihn jedoch nicht hinderte, die Skandalchronik, die fast jeden dieser Auserwählten mit dem Wohlduft sardanapalischer Gerüchte umgab, genau zu kennen und gelegentlich mit ehrerbietig gekitzelter Entrüstung durchzuhecheln. Nach den Mitgliedern des Erzhauses, des hohen Adels und der Regierung kam für ihn aber sogleich und unmittelbar die von der Sonne der allerhöchsten Gunst bestrahlte Planetenwelt der beiden Hoftheater und auch von ihr fehlte an diesem Tage keiner der Sterne. Den Darsteller des König Lear und des Hüttenbesitzers im Gedränge am Ärmel gestreift zu haben, galt da fast ebensoviel, als von einem Prinzen des kaiserlichen Hauses im Vorübergehen eines Lächelns gewürdigt worden zu sein. Aber abgesehen von diesen Kindlichkeiten eines noch patriarchalisch zu seinem Glück und Unglück gegängelten Volkes – am Nachmittag des Karfreitag war das damalige Wien sicherlich die eleganteste Stadt der Welt. Welch eine Fülle von adeliger und bürgerlicher Schönheit bewegte sich da über das Pflaster des Grabens wie über das Parkett eines Salons! Die Damen trugen gleichsam große Hoftrauer um den König der Könige und das Schwarz stand den hübschen oder doch noblen und unverschminkten Gesichtern von damals entzückend. Zudem waren die Gespräche der Promenierenden bei aller Lebhaftigkeit des gegenseitigen Begegnens und Begrüßens taktvoll gedämpft. Überhaupt hatte man während des Karfreitagbummeis das Gefühl einer großen, fast feierlichen Stille. Das kam wohl auch daher, daß es während seiner Dauer fast keinen Wagenverkehr gab. Nur das gesammelte Schlürfen vieler Tausender von Schritten klang mit den unzähligen gehaltenen Stimmen zu einem merkwürdigen Summen zusammen, das dem fernen Geräusche einer Brandung oder eines Wasserfalles glich. Der Duft von Zigaretten, Veilchensträußen, seinen Parfüms und Frühlingsluft webte darüber wie eine zarte Wolke und aus den offenen dunklen Toren der Kirchen, in denen die Heilandgräber zum frommen Besuche luden, mischten sich schaurige Kühle und der Geruch von Wachskerzen und Weihrauch darein. Den Höhepunkt des Osterfestes aber bildeten damals die Auferstehungsfeierlichkeiten in der Hofburg und bei St. Stephan und, wer da ein echter und rechter Wiener war, wußte es so einzurichten, daß er beiden beiwohnte.

Am Karsamstag pflegte mich mein Vater bereits um drei Uhr nachmittags auf den äußeren Burgplatz zu führen und, wenn die Ostern in den späteren Frühling fielen, so ward schon dieser Platz als solcher zum unvergeßlichen Erlebnis. Tausende von roten Blütenkerzen brannten auf den grüngoldenen Kronleuchtern der Kastanienalleen, die dieses mächtige Gevierte von Rasenflächen und Kiesplätzen umstehen; in überschwenglicher Fülle blühte und blüht dort auch heute noch der Flieder, durch die goldenen Lanzenspitzen des Volksgartengitters drängten Goldregen und andere wohlriechende Frühlingssträucher und Hunderte von feiertäglich gestimmten und gekleideten Menschen, über deren Gruppen die roten, blauen und grünen Luftballons der Kinder wie lustige Heiligenscheine schwebten, verwandelten den zartübersonnten und nach junger Erde duftenden Platz in eine einzige große Festwiese. Über allen Häuptern aber schienen die beiden schwarzen Reitergestalten des Erzherzogs Karl mit der Fahne von Aspern und des Prinzen Eugenius aufeinander zuzusprengen.

Um Schlag vier, wenn die Uhr im inneren Burghofe das Zeichen gab und die Türme des Rathauses, der Minoriten, von Sankt Michael und von den Augustinern feierlich Antwort geklungen hatten, begann dann die Auferstehungszeremonie in der Hofburgkapelle; die Ehrenkompagnie, die beim Denkmal des Napoleonbezwingers in Paradeuniform mit Eichenlaub auf den Tschakos aufgestellt war, gab auf Signale, die sie aus einem Fenster der Hofburg empfing, zu den Höhepunkten der heiligen Handlung Generaldechargen ab und die unzähligen Hunde aller Rassen und Größen, welche die Rasenfläche des Heldenplatzes schon damals mit ihrem kunterbunten Liebesleben zu bevölkern pflegten, quittierten diese Gewehrsalven mit einem vielstimmigen Gebelle und Geheule. Um fünf Uhr war dann die Zeremonie in der Hofburg vorüber und es begann – worum all die Hunderte stundenlang gewartet hatten – die eigentliche Sehenswürdigkeit dieses Nachmittags: der Abmarsch der Truppen und die Abfahrt der Wagen. Beide erfolgten über die breite Avenue, welche die Hofburg mit dem äußeren Burgtore verbindet. Regiment um Regiment zog da mit klingendem Spiele vorüber, das Pflaster dröhnte vom Paradeschritt der Bataillone und der Schnarrposten beim äußeren Burgtor rief immer wieder mit sei nem langgezogenen »Gewehr heraus!« die Wache zur Ehrenbezeigung für die vorübergetragenen Fahnen auf. Dann, nachdem der Heerbann abgezogen war, vollzog sich die Abfahrt der Wagen. Es waren dies vor allem die Galakarossen des hohen Adels. Sechsspännig und von edelstem Zuchtblut gezogen, bewegten sich die schweren und pompösen Fahrzeuge mit ohrenbetäubendem Gerassel den Hofstallungen zu. Ein gutes Stück altösterreichischer Geschichte rollte da vorüber und lebte für Augenblicke in den Namen auf, die in der schauenden Menge von Mund zu Mund gingen. Da waren, nebst den nicht minder vertrauten ungarischen Geschlechtern, die österreichischen und böhmischen der Auersperge und der Liechtensteins, der Trauttmansdorffs und Elam-Gallas, und der Wiener von damals erkannte sie bereits an den Wappenfarben, in denen die Pferde geschirrt und die Wagen verziert waren. Auf weit ausladenden Federungen wie zur Zeit der Postkutsche schaukelten die Glaskasten der Karossen, in denen die Mitglieder jener Familien als goldstrotzende Hofwürdenträger oder Generale saßen. Spanisch livrierte Kutscher zügelten die glatt und üppig in ihrem funkelnden Gurtenwerk tänzelnden Rosse und auf den Lakaientritten standen buntuniformierte Haiduken mit weißen Perücken und Kopfbedeckungen wie aus den Tagen des Prinzen Eugen. Wenn die Vorbeifahrt der Wagen vollendet war, folgte zum Schlusse der Abzug der Burggendarmerie und der Garden in ihre Kasernen, rasch löste sich das Menschenspalier auf, der äußere Burgplatz leerte sich und, was noch Füße hatte zu gehen und zu stehen, begab sich auf dem kürzesten Wege zu St. Stephan, wo um sechs Uhr die »Bummerin«, die aus dem Erze der eroberten Türkenkanonen gegossene Riesenglocke, – die damals nur dieses eine Mal im Jahre angeschlagen wurde – die Auferstehung des Herrn einläutete.

Dies waren die Ostern im Wien meiner Kindheit und so wurden sie noch begangen bis in die ersten Jahre des Weltkrieges hinein. Ihnen folgten, ehe es in die Ferien ging, nur mehr die Pfingsten mit den geschmückten Wagen der Firmungswochen, der Blumenkorso der eleganten Welt in den Prater, die Frühjahrsparade der Wiener Garnison vor dem obersten Kriegsherrn auf der Schmelz und, als letzte und imposanteste Entfaltung monarchischer und sakraler Pracht, der Fronleichnamsumgang in der Inneren Stadt und nur noch von ihm will ich erzählen.

Fronleichnam, das Fest der Eucharistie, bei dem die wunderbare Verwandlung des Brotes und Weines in den Leib und das Blut Jesu Christi von den Gläubigen der katholischen Kirche verehrt wird, erhielt damals seinen besonderen Glanz dadurch, daß die apostolische Majestät in eigener geheiligter Person im Triumphzuge des Allerheiligsten einher schritt. An diesem Tage war daher – wo ferne er von schöner Witterung, die man Kaiserwetter nannte, begünstigt war – ganz Wien vom frühesten Morgen an auf den Beinen und  strömte sonntäglich gekleidet aus allen Vorstädten und Umgebungen der Inneren Stadt zu, um sich dort an geeigneten Plätzen in dichten, von Truppen eingedämmten Spalieren aufzustellen. Dieses Wandern und Treiben pflegte bereits mit Sonnenaufgang zu beginnen; denn schon um Punkt sechs Uhr fuhr der Kaiser im zwölfspännigen, von milchweißen Lipizzanern gezogenen Hofgalawagen von der Burg nach St. Stephan, wo zunächst ein feierliches Hochamt zelebriert wurde. Während dessen besetzte ein Publikum aus den vornehmen oder doch wohlhabenden Kreisen Wiens (aber auch der Provinzen und des Auslandes!) sämtliche Plätze an den Fenstern, die auf die von den Heidentürmen überragte Westfront der Kathedrale herabsehen. Bis in die obersten Stockwerke blühte da ein verschwenderischer Flor von hellen, zarten Frühlingsfarben duftiger Toiletten in den Hunderten von weißen Rahmen, als quöllen allenthalben Blumen aus den grauen Fassaden, und dies übrigens nicht nur auf dem Stephansplatze, sondern in allen Straßen, durch welche die Prozession ihren Weg nehmen mußte. Es war ein entzückender und unvergeßlicher Anblick! Etwa um sieben Uhr wurden dann die ersten Kirchen fahnen unter Orgelklang und großem Geläute aller Glocken in dem dunklen, spitzbogigen Ausschnitte des Riesentores sichtbar und der Zug, von den Abordnungen sämtlicher Wiener Pfarren eröffnet, bewegte sich über den Stock im Eisen-Platz in die Kärntnerstraße, um durch die Augustinerstraße auf den Michaelerplatz und von dort über den Kohlmarkt und Graben wieder zur Metropolitankirche zu gelangen. Wobei seine Ausdehnung so gewaltig war, daß, wenn die Letzten der Prozession den Dom eben verlassen hatten, sich deren Spitze ihm bereits wieder näherte. Ihrer genauen Ordnung und Reihenfolge kann ich mich nicht mehr erinnern, aber der Gesamteindruck, daß der Fronleichnamsumgang von damals dem Aufgebote aller weltlichen und geistlichen Machtsymbole des Habsburgerstaates gleichkam, ist mir geblieben. Aber auch die Vergangenheit schritt in ihm einher. Die Weltreichepoche des Erzhauses war durch den spanischen Pomp der Hofwürdenträger und -chargen, die teils zu Pferd und teils zu Fuß an der Zeremonie teilnahmen, angedeutet. Das Mittelalter ließ sich durch die vielen Mönchs- und Priesterorden vertreten, deren Mitglieder in schwarzen, braunen und weißen Habiten, den Blick nach innen gerichtet und demütig gesenkten Hauptes, paarweise vorüberzogen. Die Gegenwart aber kam durch alle jene zu Worte, die, zumeist in irgendeiner Form am Imperium des Staates teilnehmend, durch inländisch-weltliche Orden ausgezeichnet waren. Ihre ernsten goldbetreßten Galauniformen oder Hofkleider wetteiferten allerdings vergeblich mit dem beiweitem farbenfreudigeren Prunk, den die Angehörigen der bewaffneten Macht zu entfalten vermochten, und der Wiener Gemeinderat, dem der Bürgermeister und die Vizebürgermeister mit ihren goldenen Halsketten voranschritten, bildete mit den schmucklosen bürgerlichen Festkleidern der Stadtväter ein für damals fast allzuschlichtes Glied in der ununterbrochenen Kette prächtigen Vorüberwallens. Indessen all dies war bloß die Einleitung und Vorbereitung des Eigentlichen! Wer, wie ich dies zu tun pflegte, die Prozession etwa in der damals noch viel engeren Zeile des Kohlmarktes erwartete, der ließ auch diesen ihren ersten Teil noch mit einer gewissen Gelassenheit an sich vorüberziehen. Erst wenn vom Altare auf dem Michaelerplatz her die Generaldécharge als Ehrenbezeigung für das Evangelium aufgedonnert hatte, wußte er, daß sich der Höhepunkt des Schauspieles ihm nähere. Denn da brach dort zu den Klängen der Volkshymne ein solcher Jubel von Fanfaren aus, wie er nur dem Göttlichen, das heute in Gestalt des heiligen Schaubrotes durch die Straßen getragen wurde, gelten konnte. Und da ging auch schon ein Ruck mehr oder minder frommer Neugierde durch die wartend zusammengepferchte Menge; die Offiziere kommandierten den spalierbildenden Soldaten »Habt acht!«, sodaß sie dastanden wie in Erz gegossen, und in der Gegend der Manzischen Hof- und Universitätsbuchhandlung wurde, über die entblößten Häupter Tausender hinweg, das schwankende Dach des »Himmels« sichtbar. Schon nahte jetzt der gedämpfte Taktschritt der Ehrenkompagnie, die in funkelnagelneuer Paradeadjustierung und prachtvoller Haltung einhertrat, schon folgten ihr die Choralmusik, von Posaunen geblasen, das Domkapitel von St. Stephan, viele purpurne Kirchenfahnen und der silberne Dreiklang der Ministrantenglöcklein! Dann aber – von vielen Priestern in goldenen Dalmatiken umdient, von Garden mit gezogenen Säbeln und Hofbediensteten mit brennenden Wachskerzen geleitet – nahte in einer Wolke aus Kerzenduft und Weihrauch der Baldachin, unter dem der Kardinal Fürsterzbischof von Wien im goldenen Pluviale, das Allerheiligste in damastumhüllten Händen vor sich hertragend, dahinschritt. Dem Venerabile aber folgte unmittelbar und in einem ausgesparten Raume allein – angetan mit der Marschallsuniform, den grünbefederten Generalshut in der Linken am Griffe des Säbels – der Kaiser. Ihm schlossen sich in ehrerbietigem Abstande die Mitglieder der österreichischen und der mit Ungarn gemeinsamen Regierung an, ferner die Generalität, die Mitglieder der hohen deutschen, magyarischen, böhmischen und polnischen Adelsgeschlechter in ihren farbenfrohen und kostbaren Nationalkleidern, Angehörige des Malteser- und Deutschen Ritterordens, mittelalterlich gerüstet, und dann noch viele andere hohe Funktionäre und Würdenträger. Den Beschluß aber bildeten österreichische und ungarische Leibgarden zu Pferd, die ununterbrochen auf langen silbernen Trompeten den Generalmarsch bliesen, und damit war der Fronleichnamsumgang vorüber. Eine hungrige und durstige Menge verlief sich rasch, teils nach Hause, teils in die Gastwirtschaften der Inneren Stadt, und eine Viertelstunde später ergoß sich bereits wieder das profane Leben in Gestalt von allerhand Fuhrwerken und vieler sich feiertäglich ergehender Menschen in die von der Absperrung befreiten Straßen.

Was nun aber dieses grandiose Schauspiel, in dem der sichtbare Herr über viele Millionen von Menschen demütig den Spuren des unsichtbaren Herrn über alle Menschen folgte, was diese imposante Heerschau über Geschichte und Gegenwartsmacht eines großen und vielsprachigen Völkerreiches einem in Kaisertreue und Vaterlandsliebe erzogenen Knaben von damals etwa bedeuten mochte, muß einer heutigen Generation notwendigerweise unvorstellbar sein. Sie ist darob ebensowenig zu bedauern als sie deshalb glücklich zu preisen wäre. Andere Zeiten, andere Begriffe, Ausdrucksformen und Träger der Macht, die das Gebäude des Staates und der Gesellschaft in den Fugen zu erhalten berufen ist! Freilich, die Symbole dieser Macht – mag ihr Gegenständliches auch bisweilen als überholt in die Rumpelkammer der Geringschätzung geworfen werden! – besitzen ein zäheres Leben als die Theoreme, die sie jeweils sinnfällig zu machen haben. Die Farben und Embleme wechseln, aber die Fahnen, Standarten, Wimpel etc. als solche bleiben! Und wie sie, so bleiben auch die Aufzüge, Aufmärsche und Auftriebe von Menschen, so auf den Plan gelockt werden für Ideen, von denen sie kaum mehr als den trivialen Bodensatz engbegrenzter Vorteilhaftigkeit für sich selbst zu schmecken imstande sind. Für was und wen immer dergleichen veranstaltet wird, es hat doch zu allen Zeiten nur den einen und selben Zweck: jene, die noch nicht klar genug denken können, etwas glauben zu machen, wodurch sie von anderen, die es bereits im kleinen Finger und faustdick hinter den Ohren haben, leichter gezähmt und (natürlich immer zu ihrem Besten!) beherrscht werden können. Diese Komödie ist ewig, nur daß sie nicht immer gleich in der Zeit, in der das Stück spielt, durchschaut wird! Als ich, kurz nach dem Untergange der österreichisch-ungarischen Monarchie, zufällig einmal in der Direktion eines Wiener Operettentheaters zu tun hatte, gewahrte ich über dem Klaviere des dortigen Empfangsraumes eine mächtige, goldumbortete und mit der großen österreichischen Kaiserkrone gestickte Decke aus Scharlachtuch, die ich sofort als eine Prunkschabrake der ehemaligen berittenen Leibgarde erkannte. Und so war es auch; denn, wie mir ein Beamter des Theaters nicht ohne Genugtuung erzählte, hatte die Direktion alles, wessen sie an Uniformen, Ausrüstungsstücken, Waffen und Instrumenten des früheren Hofdienstes hatte habhaft werden können, in der Zeit des Umsturzes um einen Pappenstiel zusammengekauft und diese Gegenstände, die noch jüngst die Staffage zu manchem staats- oder welthistorischen Ereignis gebildet hatten, ihrem Fundus einverleibt. Man braucht darüber weder zu weinen, noch zu lachen. Schließlich mündet ja vielleicht alles, was in der Welt zu Zeiten als erhaben und mächtig gegolten hat, eines schönen Tages in die – Operette! Das eine früher, das andere später. Die göttlichen Königsbrüder Agamemnon und Menelaos samt ihrem Olymp mußten sich damit gedulden bis auf Offenbach, andere Potentaten werden vermutlich nicht zweitausend Jahre lang darauf warten müssen und, was die Gegenwart betrifft, so wird sie schon auch noch ihren Librettisten finden. Es muß ja nicht gleich sein! Und so fort – per saecula saeculorum.