Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
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ERSTE AUTOFAHRT

ERSTE AUTOFAHRT

Anton Wildgans

(1881-1932)

 

 

Erste Autofahrt

(Geschrieben 4.8.1907; Erstveröffentlichung in „Anton Wildgans – Ein Leben in Briefen“ Band 3, herausgegeben von Lilly Wildgans 1947 - Anmerkung: Autofahrt mit Theodor Heinrich Mayer auf den Semmering)

                                                                                                

Erst noch durch morgenstille Sonntagsgassen, an Gärten vorüber, die über graue, fast düstere Mauern blühende Zweige reichen, und an Palästen vorbei mit grünkupfer­nen Kuppeln und edelgegliederten Firsten.

Dann irgendein Viadukt, über den Züge rollen. Jenseits des Viadukts die lange Vorstadtstraße. An Zinskasernen vorbei, deren Monotonie durch alte vernachlässigte Häus­chen unterbrochen wird. An Remisen vorbei, wo roter Wagen an rotem Wagen steht. Viele wandernde Men­schen. Und immer noch Häuser, Bauplätze, Fabriken, Straßenbahnzüge, der feuchte Kehrichtgeruch morgend­lich bespritzten Pflasters. Der Wagen rüttelt darüber hin. Der Motor knattert. Immer noch Häuser. Aber nun schlägt eine Woge kühlen Duftes entgegen. Es steigt an, die Höhe ist im Sturme erreicht. Im Hundertstel einer Sekunde scheint es, der Wagen steht still. Aber schon im nächsten Hundertstel gleitet er, fliegt er, nur leise zitternd wie die Flanken eines edlen Pferdes, in das Rauschen und Fluten, in das Duften und Dämmern der Allee.

Ich lehne mich tief in die Polsterung der Karosserie. Als wäre ein mystischer Sturm in den Kronen der Bäume, so braust es, und dennoch, es rührt sich kein Blatt. Und aller Sturm ist in meinen Ohren. Dort singt er wie in einer Muschel, in die der Donner der Brandung eingefan­gen scheint. Ich nehme die Kappe ab. Welle um Welle stürzt Kühle und Duft meiner Stirn entgegen. Mit der Schneide meiner Hand furche ich den Wind wie ein Kiel. Es ist ganz gleichgültig, daß da vorn, am Volant irgendein gleichgültiger bezahlter Mensch wie aus Eisen hingegossen ist, daß sein Wille Auslöser und Maß der Kraft ist, die uns fast fliegen macht. Ich bin diese Kraft, die fliegen macht, so fühl ich's, und sause dahin, schmiege mich mit meinen Rädern in die Wellentäler der Straße, wirke ihre Kämme hinan, der Fliehkraft ihrer Kurven setze ich spielerisch mein eigenes Gewicht entgegen. Und immer die Allee. Mitten durch grünende Felder. Ich sehe auf die Uhr. Es sind kaum fünf Minuten seit dem letzten der großen grauen Vorstadthäuser. Und nun weiden schon Ziegen am Straßenrand. Scheunen im Goldgrün der flim­mernden Wiesen. Gehöfte in Baumgruppen geschmiegt. Freilich auch noch Schlote im zarten Graublau des Hori­zonts. Aber immer mehr Pappeln statt ihrer, je mehr die Ferne heranrückt, und grüne Höhenzüge, an deren Fuß wie weiße Silbergeschmeide Ortschaften ausgestreut sind. Und grüne Waldkuppen mit Warten. Gleichmäßig wie Maschinengewehrfeuer knattert der Motor.

Es war schon nahe daran, daß die Allee bedrängte. Da gibt sie uns frei. Die Weite nimmt uns auf. Die Ebene, der Himmel. Schnurgerade nun die breite weiße Straße. Telegraphenstangen springen vorüber. Dann schwenken sie querfeldein ab. Nur das weiße „Trottoir roulant" mitten durchs Grüne — nichts mehr, worauf die Ge­schwindigkeit in der Nähe Beziehung nehmen könnte. Wenn ich die Augen schließe, habe ich nicht das Gefühl der Vorwärtsbewegung. Ich bin eine ungeheure surrende Hummel, meine Flügelschläge halten mich in der Luft. Ich stehe im Fluge. Ich öffne die Augen und bemerke, daß wir rasen. Und immer noch die weiße, schnurgerade Straße und der Motor.

Ein schwarzer Punkt taucht in der silbernen Ferne auf. Ich will langsam bis zwanzig zählen. Bei siebzehn flirrt er an mir vorüber. Eine Sekunde lang mit einem kurzen Geräusch, wie wenn man mit flacher Klinge einen blitzschnellen Hieb durch die Luft haut. Die Berge rücken näher. Graue Silhouetten, gegen den Himmel verschim­mernd wie weiße Seide. Wir halten.

Im Wechsel einer Sekunde fühle ich mich wie in einen Backofen versetzt. Das Hummelsurren des Motors ist plötzlich Stille geworden. Ich stehe in einer heißen Wolke von Benzingeruch — aber zehntausend Lerchen sind in der Luft, unendlicher Jubel. Zehntausend Lerchen, unsicht­barer Taumel klingender Verzückung. Wie reife Früchte fallen die einen aus dem Himmel und andere schrauben sich empor. Der Rauch meiner Zigarette bleibt stehen in der glühenden Feldstille — und Primeln meidet der zärt­liche Fuß.

Radfahrer kommen vorbei. Ihre blauen Hemden sind aufgeplustert vom Gegenwind. Die braunen Stirnen über das Gubernal gebeugt. Die leisen Räder knistern.

Eine Feldmaus läuft über die Straße.

Und wieder der Motor und das weiße „Trottoir roulant" unter den Rädern. Den Bergen zu. Immer näher. Aus den grauen Silhouetten von früher mit dem weißen Seidenglanz gegen den Himmel treten Wälder hervor. Klüfte deuten sich an, Abstürze, Steinhalden. Hier und dort blauer Schnee im Schatten.

Aus einem rosenroten Kleeacker wächst dämmernd ein Kirchturm. Graue und rote Dächer schießen ihm von unten zu. Gärten beginnen, in denen wie weiße und zartrosa Wölkchen blühende Obstbäume stehen. Frauen und Mädchen mit Gebetbüchern kommen entgegen. Burschen in den schwarzen Sonntagsanzügen mit den schweren silbernen Uhrketten. Schwere Pflügerschritte. Hunde springen die |Räder an. Hühner stieben auseinander. Holpriges Dorf­pflaster, Wirtshausschilder, überraschende Straßenbiegung. Der Hauptplatz, der Brunnen mit den Heiligen aus Sandstein. Blonde Mädchen, Köpfe hinter Blumenstöcken. Johlende Rekruten mit bebänderten Hüten. Der gelbe Postwagen mit der orangeroten Deichsel ausgespannt vor einem freundlichen Häuschen. Der Gendarm. Die Ort­schaft vorbei und wieder die Straße und ausgreifend der Wagen. Die Wiesen bekommen den Anschein, als wür­den sie sich von der jagenden Schwere des Kraftwagens links und rechts aufbiegen. Es geht scharf bergauf und immer tiefer unten liegt die Straße. Herden gelben Löwenzahns weiden im goldgrünen Gras. Immer steilere Hänge links und rechts. Einzelne große Primelbüsche an der Böschung zerflüchten in flatternde Bänder — hoch oben aus Föhrendunkel eine Ruine.

Neben der Straße ein Schienenstrang. Kein Zug be­gegnet. Plötzlich fließendes Gewässer, grün wie Tiffanyglas, manchmal aufperlend wie Champagner, kleine Wehre, Mühlen, Sägewerke, im Vorüberfliegen ein Atem­zug warmen, harzigen Bretterduftes, dann einige Sekun­den der starke Brotgeruch trocknender Lohe. Immer enger das Tal — Brücken aus holprigen Holzstämmen. Eine weiße Ortschaft, ein scheuender Fleischergaul. Vorüber.

Und immer wieder weiße Ortschaften. Immer bergan. Der Motor rattert härter und schärfer, ein Maschinen­gewehr in gefährlichster Nähe. Aus dem Kühler siedet Dampf. Immer enger die Straße, Felsen rechts, Abstürze links, immer spärlicher das Grün der Gebüsche, Baum­zweige gittern noch fast unbelaubt in den tiefblauen Him­mel. Erste Primeln sprenkeln den braungrauen Wald­boden. Und immer donnernder der Motor.

Kurve um Kurve. Plötzlich, verblüffend, unerwartet, die letzte. Mattengras, Wacholder und zartkahle Birken. Der Sattel. Und unten das Land. Hier ist guter Mittag. Orangen kollern in den blühenden Bergthymian, und in eine kleine, rasch ausgestochene Erdmulde hineingepflanzt die Korbflasche voll roten Weines. Kein anderes Mahl soll man halten, hingeworfen auf Gottes einsame Erde, als von dem, was sie friedlich lächelnd und unblutig gibt. Und ihres erlauchtesten Krautes süßes Räucherwerk träume blaue Wölkchen in die kristallklare Stille, wo nur der Specht an der Kiefer trommelt, die Habichte hoch oben Spiralen fliegen und die spröden Buchenzweige aneinanderklappern beim leise schmeichelnden Windprall.

Kaum dreimal sechzig Minuten, und eine Welt konnte versinken in die Wogen grünen Landes, und die Stätte der Alltagssorge deutet nicht einmal mehr Rauch an am Rande des Horizonts. Irgendwo bin ich geboren, lebe und arbeite dort, habe dort gelitten und geliebt und unsägliche Müdig­keit empfunden. War ängstlich um meine Gesundheit und hauste in Zimmern, die nach Teppichen und poliertem Holz, nach Tabak und schlechter Kohle rochen. Aber das ist alles vorbei. Gräserspitzen stechen durch meine Strümpfe, ein zitronengelber Schmetterling setzt sich auf meine, des Liegenden, Fußspitze. Ich rühre mich nicht, ihn nicht zu scheuchen. Er setzt sich auf mein Knie. Ich rühre mich nicht. Er setzt sich auf meine Brust. Ich bin ein Stück Urgestein, das aus dem matten Gras graut. Flöge doch Fichtensamen in meine Furchen und Ritzen und triebe aus mir! Regen schwelle mir Erdreich an — der Geier luge von meiner Kante aus nach Raub!

Ich schlafe nicht, aber mein Bewußtsein hat die jagende Geschehniskraft des Traumes. Kerzengerade steigt der Rauch meiner Zigarre empor. Ich bin Abel, der Hirte, und mein Brandopfer ist dem Herrn wohlgefällig. Aber von Kain stammen die Spielleut'.