Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
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BEICHTE EINES MITLEIDIGEN

Anton Wildgans

(1881-1932)

 

 

Die Beichte eines Mitleidigen

(Geschrieben 1912; Erstveröffentlichung im Nachlaßband „Ich beichte und bekenne“, Leipzig 1933 - Anmerkung von Anton Wildgans: Begonnen am 6.März 1912, am Namenstage meines Vaters und ihm zum Andenken)

 

Ich habe kein gutes Herz. Das muß ich einmal nieder­schreiben. Die Leute, die mich zu kennen glauben, schlie­ßen aus diesem und jenem, was ich tue oder lasse, ich müßte ein gütiger Mensch sein. Und doch habe ich noch niemandem wahrhaft wohlgetan, so wahr ich lebe. Manche sprechen von meinem Mitleid, aber ich halte von dieser Tugend nichts, was mich anbelangt. Ich glaube nicht, sie zu besitzen. Denn nur ich weiß, wie es in mir aussieht und warum ich in bestimmten Fällen so und nicht anders ge­handelt habe. (Ich glaube überhaupt nicht an die Tugend des Mitleids. Darüber habe ich meine eigenen Gedanken.)

Ich habe zu viele Beweise gegen mich, die niemand kennt als ich. Und diese Beweise drücken mich. Manchmal möchte ich irgendeinen Menschen am Arm nehmen und ihm sagen: Du, laß dich nicht irreführen von dem, was meine Hände tun oder meine Lippen sprechen. Ich weiß aber, daß man mir die Wahrheit kaum glauben würde. Einmal habe ich einen Freund gehabt,  dem .schloß ich alle Türen auf in meiner Seele. Es gibt keinen Weg in ihr, den er nicht ge­gangen ist. So einen Menschen brauchte ich — damals, als ich noch reiner war und nicht so eitel als jetzt. Ich bin überhaupt zurückgegangen, was meine persönliche Ethik anbelangt. Als ich noch ein Knabe war, liebte ich vor i allem die Wahrheit, und das „Erkenne dich selbst" stand ; wie eine zweite Inschrift über dem Tor meiner Unterwelt. : Später kam die Zeit, da ich mich in manches hineinzu­fühlen begann, was nur meinem Gehirn eingefallen war oder meinen Sinnen aufgefallen. So machen es ja die mei­sten Menschen. Aber die meisten dieser Meisten wissen es nicht. Ich aber weiß es.

Als diese Phase eingetreten war, wurde mir der Mit­wisser meines Geheimnisses, jener Freund, unbequem. Er machte mich mir selbst gegenüber befangen. Er hatte sich nämlich eine viel feinere strengere Wissenschaft von mir angeeignet als ich selbst. Vor ihm stand ich immer hüllen­los da, ja mehr als dies, er sah mein inneres Getriebe wie nur von einem durchsichtigen Kristall umgeben. Er ließ sich nicht mehr verführen von dem, was meine Hände taten oder was meine Lippen sprachen. — Ich hatte, was ich in manchen Augenblicken dringend gewünscht hatte, aber es machte mich nicht glücklich, es entfremdete mir ihn. Jetzt habe ich ihn nicht mehr, bin nur von Menschen umgeben, die auf Handlungen und Worte schwören, und bin ganz, ganz einsam.

Ich beklage es nicht, wenn es auch schwer zu tragen ist. Denn nun brauche ich vor niemandem mehr Komödie zu spielen, und wenn ich mich auf einer Nichtübereinstim­mung meines Scheines und meiner Wirklichkeit ertappe, so bin ich nur ein wenig traurig und denke, daß es viele gibt, die nicht einmal den Schein hervorrufen, ein mit­leidiges Herz zu haben. Denn schon dieser Schein ist etwas, das manchmal heilt und Wunder tut und in den meisten Fällen genügt. Die meisten Menschen, die auf unser Mit­leid Anspruch haben, sind ja schon sehr bescheiden gewor­den gegenüber ihren Mitleidern; wie die Kranken, die wissen, daß ihnen nicht mehr zu helfen ist, und die sich doch an ein Wort klammern, das ihnen ein Tröster mehr aus Überdruß an ihrem Jammer als aus Mitgefühl hin­wirft. Es wird ja nicht mehr allzuviel verlangt von uns. Die Überzeugung, daß wir allesamt recht nüchterne eigen­süchtige Tiere sind, ist schon so ziemlich allgemein gewor­den, und man lächelt über die, so es noch immer nicht glauben wollen.

Ich will keine Analyse im allgemeinen treiben und ich will auch nicht auf irgend jemanden einen Stein werfen. Aber mit mir selbst will ich zu Rate gehen und für mich selbst will ich ein paar Erlebnisse aufschreiben, die ich hatte. Dabei will ich mich nicht besser machen als ich bin, aber auch nicht schlechter — soweit ein Mensch überhaupt von sich sagen kann: so bin ich und so nicht. —

Ich habe kein gutes Herz. — Das ist wahr, so wahr ich lebe. Aber vielleicht gibt es überhaupt keine guten Her­zen — so im allgemeinen. Was jener Muskel, der unser Blut in die Lungen pumpt, überhaupt mit unseren Ge­fühlen zu tun hat, das zu ergründen überlasse ich der Wissenschaft. Wenn ich aber von einem Menschen sage, er habe ein gutes Herz, so meine ich damit ungefähr fol­gendes:

Dieser Mensch, meine ich, hat eine derart zwingende Beschaffenheit seines Empfindens, daß es ihn drängt, Gutes zu tun aus einer angeborenen Grundsätzlichkeit. Er weiß

vielleicht gar nicht, daß das, was er zu tun gezwungen ist, das Gute ist. Für ihn ist es bloß das Notwendige ohne ethische Qualität, so wie ein Vogel nicht weiß, daß das, was er tönt, schön ist, wie ein Genie nicht weiß, daß das, was es verkündet, neu ist. Während das Talent immer weiß, wenn ihm etwas Neues beigefallen ist.

In diesem Sinne, höre ich sagen, wird es wenige geben, die gut sind.

Und wenn es niemanden gäbe und jemals gegeben hätte, und wenn selbst Jesus von Nazareth nicht in diesem Sinne ; gut gewesen wäre — an der Idee des Guten könnte das ; nichts ändern, und auch an der Tatsache nicht, an die ich ; glaube, daß diese Idee des Guten hie und da in Menschen, freilich in verschiedenen Graden der Vollkommenheit ver­wirklicht ist.

Ich habe Menschen gekannt, die rein aus dieser Idee des Guten heraus hie und da eine Handlung verrichteten oder ein geheimes Werk taten. Und wenn einer auch nur ein­mal in diesem Geiste einem Bettler einen halben Kreuzer ^geschenkt hat, so kann es höher zu bewerten sein, als wenn 'er es aus dem Mitleid getan hat, das gang und gäbe ist, und aus dem heraus ich auch manchmal gehandelt habe.

Dieses Mitleid ist aber nichts anderes als ein Ergebnis unserer Phantasie. Es hat mit Güte nichts zu schaffen. Es hängt nicht — um mich im obigen Sinne auszudrücken — mit dem guten Herzen zusammen, sondern mit einem elastischen Gehirne. Es ist das Wissen vom Leiden, von der Not der anderen. Und auch da gibt es noch Nuancen. Es kann dieses Wissen gleichsam theoretisch sein, indem es Leidgefühle auslöst ohne zu Handlungen zu führen, die abhelfen. Diese Leidgefühle können zu einem Rausche an­wachsen, der sich in Tränen, in einem Gedichte oder in Vorstellungen und Gedanken darüber, wie man jenem fremden Leid abhelfen könnte, ergehen und erschöpfen sann. Wenn dieser Zustand des Rausches vorüber ist, tritt dann die erbärmlich laue Durchschnittstemperatur unseres Gemütes wieder ein, und es ist niemandem durch unsere Emotion gedient worden als einem Nervensystem, das sich von Stauungen befreien wollte.

Eine andere Nuance ist, daß sich das Wissen um das fremde Leid in Handlungen umsetzt, in denen wir uns Wohlgefallen und um derer willen wir gerne belobt wür­den, wenn wir uns auch schämen, Lohn oder Lob zu for­dern. Diese Spielart des Mitleids kann wenigstens frucht­bar werden. Es ist aber keine allzu lautere Sache damit. Und wenn einer die Idee des Gütigen erkannt hat, so wird er sich diese Art des Mitleids, wenn sie auch werktätig ist, nicht gering genug anrechnen können.

Die reinste Form des Mitleids ist aber jene, die sich un­bekümmert um Lob und Lohn, gleichsam automatisch in die helfende Handlung umsetzt. Sie ist es, die am öftesten mit der wahren Güte verwechselt wird, weil sie beinahe so selten ist wie jene, und doch ist eine Welt zwischen ihr und jener. Derselbe Abgrund, der zwischen Christus und Paulus, zwischen Johannes und Thomas, zwischen Heloise und Abelard, zwischen Sokrates und Platon, zwischen Goethe und Schiller ist.

Dies mußte ich niederschreiben, um es mir endlich ein wenig klarzumachen. Ich habe kein gutes Herz. Ich war nur manchmal ein wenig mitleidig in meinem Leben, mei­stens in der ersten, niemals in der zweiten und selten in der dritten Art. Und dieses Mitleid hat manchmal ein recht sonderbares Spiel mit mir getrieben, hat mich sogar ver­härtet, so daß ich schlimmer war als die Stumpfherzigen, derer die Erde voll ist. Von diesen sonderbaren Spielen will ich mir selbst und einigen anderen, die mich verstehen wollen, zu erzählen versuchen.

Es gibt Menschen, die sagen, man solle einem Bettler nichts geben, man fördere sonst die Arbeitsscheu. Auch seien es selten die wahrhaft Bedürftigen, die an die Türen kommen oder an den Straßenecken stehen. Die meisten seien Trunkenbolde, die den erbettelten Groschen in der nächsten Schnapsbudike oder im Wirtshaus um die Ecke raufen. Und so weiter. Die wahrhaft Armen seien die Verschämten, die heimlich Stolzen, die lieber zugrunde gehen, als die Hand hinzuhalten in Stiegenhäusern oder Straßenecken oder auf den Landstraßen. Auch gebe es Vereine, die sich mit der Linderung der Armut befassen, Spenden sammeln und sie dann planmäßig würdigen en zufließen lassen.

Wer würde Leuten, die so sprechen, nicht recht geben? iie rühmen sich, das Leben zu kennen. "Wer mag es ihnen bestreiten? Wer vermöchte sie zu widerlegen? Aber mit ler wahren Mildtätigkeit haben ihre Grundsätze eben-»wenig zu tun, als mein Mitleid mit jedem Armen, mit jedem Bettelnden auf der anderen Seite. Jene und ich, wir ieide sind gleich weit von dem Richtigen entfernt. Aber 'wer vermag sich anzumaßen, das Richtige zu wissen? Und :ist es nicht besser, für alle Fälle vorzubeugen, als mit der _ angeblichen Lebenskenntnis sich hundertmal zu irren? Ich für meinen Teil möchte die Gefahr nicht auf mich neh­men, einen einzigen Würdigen, d. h. Bedürftigen von meiner Tür zu weisen, wenn ich auch die Möglichkeit mit in den Kauf nehmen muß, viele Unwürdige zu unter­stützen.

Und wenn der' eine oder andere hinginge und mein Al-losen vertränke: wir alle haben bisweilen unedle Ge­lüste. Aber je mehr wir besitzen, desto zahlreicher sind unsere Bedürfnisse. Ich möchte sagen, unsere Wunschsubstanz ist in viele Einzelwünsche aufgeteilt. Denen können wir dann leichter widerstehen, auch können wir uns für die Nichtbefriedigung des einen "Wunsches durch die Er­füllung eines anderen schadlos halten. Je weniger differen­ziert die Wunschsubstanz eines Menschen ist, desto intensiver wendet er sich jenen einzelnen bewußten Bedürf­nissen zu, die er hat.

 

Sie bauen noch immer Symbole aus Stein

In den längst entgötterten Himmel hinein,

Tuen Glocken in die Gestühle;

Die dröhnen mit ihrem bronzenen Mund

Eine Sprache, die keiner Seele mehr kund

Und fremd für unsre Gefühle.

Weil in den Glöcknern der Herr Jesus Christ

Seit langem nicht mehr erstanden ist —

Gestorben und nie mehr erstanden ist.

 

Uns kann, wenn des Tages Frone vorbei,

Eines Nebelhorns tierisch brüllender Schrei

Mehr Freude und Lösung verkünden —

Und ein Tag, erlöst von Maschinengekreisch,

Ist mehr für die Seele und mehr für das Fleisch

Als Vergebung all unserer Sünden —

Weil die Freude, die uns den Sonntag versüßt,

Sechs Tage getilgt wird und abgebüßt.

 

An manchen Tagen, wenn ich die Stadt durchwanderte von  den Vierteln  des  Reichtums  zu  jenen  der  Armut

— wie nahe und ohne Übergänge liegen sie doch neben­einander —, habe ich mich schon gefragt: wie ist es jenen, deren Wagen vor vornehmen Häusern in stillen Straßen warten, möglich zu leben und ihres Lebens froh zu werden mit dem Bewußtsein, daß andere in ihrer nächsten Nähe

— manchmal bloß um die Straßenecke, manchmal ein paar Stockwerke höher im selben Hause — des Nötigsten entbehren. Sie haben Zimmer, die sie nicht bewohnen, in denen aber dennoch geheizt wird, indessen sich andere in Winternächten obdachlos umhertreiben und manchmal nicht einmal in den Nachtasylen Einlaß finden. Wie ist es möglich, daß jene ihre Wohnungen nicht auf jenes Maß einschränken, das zu ihrer Bequemlichkeit notwendig ist, und den ersparten Aufwand den Heimlosen zukommen lassen?

Aber ich  selbst habe   ein  Zimmer  zuviel  in  meiner Wohnung, und darin sind Blumen, die ich mir zu allen Jahreszeiten kaufe, auch in jenen, da sie teuer sind, da ein einziges dieser zarten Gebilde mehr kostet, als der Laib Brot, mit dem einer ganzen Familie über einen Tag des Hungers hinweggeholfen wäre. Oder: jene Reichen haben in ihren Palästen Garderoben, in denen sie viele Kleider aufbewahren, die sie längst nicht mehr tragen, weil sie nicht mehr in der Mode sind. Ich habe solche Garderobe­räume gesehen,  die ein ganzes  oberstes  Stockwerk einnahmen und angefüllt waren mit vielen Kasten. Da hin­gen die Anzüge des Hausherrn beisammen, wie in einer Kleiderleihanstalt,  alle   Arten und  Jahrgänge,   und  die Toiletten der Hausfrau, alle in Überwürfen von Gaze, säuberlich über die Haken gehängt — in allen Farben und Stoffen: Kleider für die Reise und Kleider fürs Thea­ter, für Abendgesellschaften und Bälle, .warme Mäntel und Pelze. Und alles dies, während es Tausende von Men­schen gibt, die kaum haben, um ihre Blößen zu bedecken, die ohne Mantel in zerrissenen Kleidern — kaum mehr Kleider zu nennen — herumirren, auf .Bänken in öffent­lichen Gärten übernachten, während es Mütter gibt, die ihre Kinder nicht in die Schule gehen lassen können, weil sie nicht Schuhe beschaffen können für sie, und weil es Leh­rer gibt, die die Kinder nach Hause schicken und vor der ganzen   Klasse  beschämen,   weil   sie   nicht   Schuhe   und Strümpfe anhaben.

Aber ich selbst gebe das, was ich abgetragen habe, nicht solchen Bedürftigen, sondern verkaufe es dem Juden, der im Hofe meines Hauses „Handlee!" ruft. "Warum —? Nicht, weil ich nicht wüßte, daß es Bedürftige gibt, auch nicht deswegen, weil ich habgierig bin, sondern nur, weil es bequemer ist, dem Juden allen alten Kram anzuhangen und dafür noch ein paar Kronen zu bekommen, als hin­zugehen und irgendeinen Menschen aufzusuchen, dem viel­leicht geholfen wäre. Auch ist es etwas Mißliches um das Verschenken von Sachen, die man für sich selbst zu schlecht hält. Ich habe kein gutes Herz. Aber dazu fehlt mir doch meistens der Mut. Ich kann die Freude derer nicht sehen, die mit dem froh sind oder auch nur zufrieden sein müssen, was ich als zu schlecht für mich weggebe. Einmal, als ich auf der Straße einen Zigarrenstummel wegwarf, sah ich einen alten Straßenkehrer, der sich danach bückte und den Stummel, zerkaut und von meinem Speichel naß, wie er war, in den Mund steckte und weiterrauchte. Ich war bei diesem Anblick den Tränen nahe und ergriff die Flucht. Aber das sind nur die Nerven. Seither werfe ich Zigarren­stummeln in die Kanalgitter oder in die Pferdejauche, um sie unbrauchbar zu machen, um mir die Möglichkeit so großer menschlicher Reduziertheit nicht vorstellen zu müs­sen. Ich weiß, daß ich dadurch auch mögliche Freuden unterbinde, die Möglichkeit armseligen Vergnügens be­seitige. Aber daß es solche Vergnügungen am Abwurf gibt, das bedrückt mich zu sehr. Ich kann mir nicht helfen. Ein anderes Mal weilte ich auf dem Lande und schenkte einen alten Rock, den jch schon überall durchgewetzt hatte, einem armen Teufel von Kutscher. Eines Sonntags be­gegnete ich ihm mit seiner Frau und seinen vier Kindern auf einem Feldwege. Er trug meinen Rock, von den Hän­den seiner Frau wahrscheinlich aufgebessert, als Feiertags­gewand; auch das vermochte ich nicht zu sehen, und ich erwiderte den Gruß des armen Mannes kaum, nur um davonzukommen. Nerven!

Dagegen hilft nichts, und ich gehe so weit, die Vernunft jener zu hassen, die mir vorstellen, daß alles auf der Welt relativ sei und daß, was mir nicht mehr tauge, anderen noch immer Nutzen bringen könne. Diese Vernunft hasse


ich. Denn so logisch und gesund sie sicher ist, so beschränkt und armselig ist sie am Herzen.

Ein Freund sagte zu mir: „Was willst du —? Möchtest du vielleicht deine neuen Anzüge herschenken? Du bist, mir scheint, nicht richtig." Dabei pochte er an meine Stirne.

So bin ich meinetwegen nicht richtig. Was kann ich da­für? Aber man wird einsehen, daß ich nun nicht mehr an­ders kann, als meine abgetragenen Sachen dem Juden zu ^erkaufen.

Freilich, das gelöste Geld könnte ich verschenken. Und ich täte es auch sicherlich, wenn mir gerade im Moment es Erhaltens irgendein Erbarmungswürdiger begegnete. |Äber dies ist meistens nicht der Fall, und so vergesse ich.

Manchmal, wenn ich die Stadt durchwandere und ich sehe draußen durch die Armenviertel ein Automobil fah­ren, das aus der Umgebung der Stadt zurückkehrt und in dem satte, fröhliche Menschen sitzen, da denke ich: wie haben diese den Mut, ihre frohe Laune, ihre wind- und sonngebräunten Gesichter in dieser Straße zu zeigen, die von müdem, bleichem Volke wimmelt. Und am Volant dieses Fahrzeuges sitzt ein Mensch, der aus denselben Volksklassen stammt, die hier ihr armseliges Dasein fri­sten. Woher nimmt er den Mut, jenen Arbeiter anzu­schreien, der, mit einem Bündel von Holzabfällen beladen, nach zwölfstündiger Arbeit den stundenlangen Weg nach Hause nehmend, nicht schnell genug beiseite gesprungen ist? Macht schon bloß dem Reichtum dienen so hart? Weil er ein paar Wucherer spazierenführen durfte oder ein paar Nichtstuer mit ihren Mätressen aufs Land zur Er­holung von der Plage ihres freudlosen Müßigganges, darf er deshalb den armen müden Mann anschreien wie einen Hund und mit Schimpfworten belegen, die eines Menschen unwürdig sind? Macht schon dem Reichtum dienen so hart, so roh, so herzlos und alles vergessen, was einen zu­tiefst mit den Enterbten verbindet?

Aber ich selbst bin schon so, gezogen von vierzig Pferde­kräften, mit einem solchen Menschen durch die Straßen der Armut gefahren — mit einem Freunde, der mich einlud. Und als ich dann ausstieg, trunken von Luft und Sonne des Tages, gestärkt von dem Wunderbalsam eines Frühlingstages, da habe ich jenem Menschen am Volant, einer ausgefressenen rotbackigen Bestie, die jenen armen Taglöhner beschimpfte — noch ein Trinkgeld gegeben, statt eines Fausthiebes in die breite ordinäre Fresse. Dar­aus geht hervor, daß ich am unrechten Orte freigebig bin. Denn im Grunde steht die Sache so, daß ich das Geld hätte jenem Arbeiter geben sollen, der dann mit seiner Familie zwei Tage gelebt hätte, während der Mensch am Volant kaum an die Mütze griff, als ich ihm das Fünfkronenstück in die Pranke drückte. Als ich diese Erwägungen meinem Freunde bekanntgab, lächelte er nur überlegen und meinte, daß ich sehr viele posthume Empfindungen habe. Darin hatte er recht, und ich schämte mich.

Seither, und auch gewitzigt durch andere Fälle, halte ich mit meinen Gedanken zurück. Denn in der Tat ist es überflüssig, darüber Betrachtungen anzustellen, was man in diesem oder jenem Falle hätte tun sollen. Nur diesen Blättern will ich noch manches anvertrauen.

Manchmal glaube ich selbst, daß meine ganze mitleidige Art nur auf eine Schwäche der Nerven, auf eine Überreizt­heit meines Vorstellungsvermögens zurückzuführen ist. Es ist sicher nur eine Sache des Gehirns und dieses ist zügellos, wenn es gilt, sich in anderen Jammer hineinzu­denken. Wäre ich wahrhaft gut, so würde ich weniger denken und mehr handeln, und da Handeln immer Zeit und Kraft in Anspruch nimmt, so würden diese meinem zuchtlosen Gehirne entzogen, ich würde dann zwar weni­ger empfinden, aber mehr helfen. Wie ja auch ein Arzt, der sich nur in den Schmerz des Kranken hineindenken würde,  statt  resolut zum heilenden Messer zu  greifen, mehr Unheil stiften würde als Genesung.  Ich bin also sicher auf dem falschen Wege. Und dennoch tue ich mir manchmal auf meine Fähigkeit, fremdes Leid aufzuspüren und mitzufühlen, etwas zugute. Nicht, daß ich mich des­wegen höher einschätze, aber an meiner Fähigkeit wächst der Haß gegen jene, denen diese Fähigkeit mangelt. Und diese sind in der überwiegenden Mehrzahl und leben in den Tag hinein wie das liebe Vieh, wänsten ihre Bäuche an und genießen drauflos und kümmern sich den Teufel :um das Elend, in dem drei Viertel der Menschheit schmach­ten. Um dieses Hasses willen bin ich froh, daß ich bin, wie mich Gott eben geschaffen.

Ich weiß: mein Gefühl für alle, die sich in Drangsal befinden, ist so stark, daß ich leicht ungerecht werde gegen jene, denen es gut geht. Und meine Phantasie, die sich die Qualen eines Sträflings ausmalt, nimmt gar keinen An­lauf, sich das Ungemach jenes vorzustellen, an dem jener Sträfling die Tat begangen hat. Mein Mitleid stellt sich in allen Fällen auf die Seite des Gefangenen und abgeur­teilten Übeltäters. — Diese Eigenschaft würde mich un­fähig machen, den Beruf eines Richters auszuüben. Und ich muß es als eine sonderbare Ironie des Zufalls bezeich­nen, daß gerade ich eine Zeitlang dem richterlichen Berufe zuneigte und auch bereits im Vorbereitungsdienste war. Ich suche für diese Erscheinung eine Erklärung. Ist mein Mitleid für den Gefangenen nur deshalb stärker, weil er leibhaftig existiert und vor mir steht, oder weil es Stätten gibt, wo sich solche Leute aufhalten müssen und die die Phantasie mit allen Schaudern umgibt? — Sollte ich so sehr ohne Vorstellungsmöglichkeit bezüglich der Tat sein? — Und hat mich noch keine Tat empört und auf die Seite des Beschädigten gedrängt? Doch — doch — ich erinnere mich, einer Verhandlung gegen eine Mutter beigewohnt zu haben, die ihr unehe­liches Kind — als sie sich verheiratet hatte — zu Tode quälte. Das Kind war entweder aus krankhafter Anlage oder infolge der steten Mißhandlungen von solcher Ner­venschwäche, daß es gewisse Bedürfnisse nicht an sich hal­ten konnte. Und dies war angeblich der Anlaß, warum jene Mutter das unreine Kind schlug, hungern ließ, ein­sperrte und mit dem Gesicht in den Unrat stieß, den es verschuldet hatte — wie man es eben mit Hunden macht. Die Richter glaubten jenem "Weibe, daß nur die Unrein­lichkeit des Kindes die Ursache ihrer unmenschlichen Be­handlung war, und ließen es bei einem strengen Verweise bewenden, da die Züchtigung jenes Maß nicht über­schritten, welches etc.

In diesem Falle stand ich auf Seiten des geschädigten Kindes. —

Ich möchte mich nicht in Philosophie verlieren, aber eines scheint mir wahr zu sein:

Wenn ein gewöhnlicher Mensch — d. h. nicht einer, den ein krankhafter Hang zum Verbrechen treibt — ein Ver­brechen" begeht, so muß er unendlich viel gelitten haben, und die Tat selbst ist nur eine letzte verzweifelte Reak­tion gegenüber der Unerträglichkeit seines Leidens.

Für die staatliche Gerechtigkeit ist dieser Satz freilich unannehmbar. Aber für die göttliche ist er sicherlich die Angel, um die es sich dreht.

Niemand geht hin und begeht leichten Herzens oder aus Übermut, kaum jemand aus Böswilligkeit ein Ver­brechen — wenn man von jenen Verbrechern absieht, die es nur vermöge der systematischen Einteilung des Straf­gesetzbuches sind. Ich meine, wenn jemand eine Fenster­scheibe einwirft, die zufälligerweise mehr als 50 Kronen wert ist, oder eine Laterne beschädigt innerhalb eines Rummels von Unzufriedenen. Im Sinne des Gesetzes sind auch Solche Verbrecher, aber vor dem Auge des Menschensohnes sind sie es nicht. Und die meisten Menschen, die als Verbrecher von der irdischen Justiz abgeurteilt werden, sind es nicht — im menschlichen Sinne. Und die meisten der wenigen, die es sind, müssen viel gelitten haben.