Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
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SCHWESTERN

Anton Wildgans

(1881-1932)

 

 

Schwestern

(Geschrieben Juli 1904; Erstveröffentlichung als Feuilleton in der „Arbeiter-Zeitung" am 7. August 1904; Erstveröffentlichung in Buchform in „Anton Wildgans – Ein Leben in Briefen“ Band 3, herausgegeben von Lilly Wildgans 1947 - Anmerkung von Anton Wildgans: Aus dem Tagebuch 1916. Ich habe einmal eine kleine Studie über zwei Kinder geschrieben. Heute ist an den beiden Mädchen genau das eingetreten, was ich von ihrem Schicksal damals vorhergesagt habe – Anmerkung von Lilly Wildgans: Eine Studie über die zwei Töchter Henna und Renee seiner Jugendfreundin Minnie de le Beau aus der Steinhauser Zeit und Schwester seines späteren Schwagers Fritz von Schmedes. Erster Schritt in die Öffentlichkeit)

 

Ich sah sie neulich im Park: Ellen und Edith, die Kinder der Frau von Lorain...!

Wie sie neben ihrer Mademoiselle einhergehen, sind sie beide gleich groß und gleich angezogen.

Ich grüße und frage: „Wie geht's der Mama und dem , Papa?", und da wirft Edith, die jüngere, einen kurzen Blick auf Ellen, der bedeutet: „Sprich du, du bist die Ältere!" Und Ellen sagt selbstverständlich, aber kindlich: „Mama und Papa geht es gut,  danke." Dann aber erzählt sie, daß Mama schon seit zwei Tagen zu Bett liege, weil sie so stark Kopfweh habe. Dabei huscht etwas wie eine Ahnung von Schmerz über ihr blasses  Gesichtchen mit den großen mitleidigen Kinderaugen. Ellen fühlt, daß Mama krank ist.

Edith geht neben uns einher, interessiert sich für die Buben, die den Reif treiben, und für die Babys mit den roten Luftballons, möchte vielleicht selbst um einen bitten, wenn sie sich nicht vor ihrer Schwester schämte, die mit sieben Jahren auch keinen Luftballon mehr be­gehrt hat.

Denn Ellen ist ihr Vorbild, obwohl sie nur um ein Jahr älter ist. Sie fühlt ihre Überlegenheit, und ihr einziger "Wunsch war von jeher, so alt /u sein wie Ellen. Doch hatte sie das Alter erreicht, da Ellen dieses oder jenes erlaubt worden war, blieben immer noch unzählige Dinge über, die man Edith verbot, Ellen aber niemals zu untersagen brauchte.

Denn Ellen besaß von jeher den instinktiven Takt einer edlen Rasse, sie tat immer das Angemessene, ihr Werden vollzog sich in einem wunderbaren Rhythmus, wie ihn die Natur ihren Lieblingen gewährt: den Blumen, die sich langsam von Zelle zu Zelle aufbauen in gleich­mäßigem "Wachstum, bis sie ihre Kelche der Sonne öffnen dürfen.

Bei Edith aber ging alles sprunghaft vor sich; sie über­raschte beinahe immer, sei es durch Zärtlichkeit oder Ungezogenheit, sei es durch eine plötzliche Fähigkeit und deren ebenso plötzliches Verschwinden. Was sie heute wünschte, konnte ihr morgen gleichgültig sein. Sie hatte die Gabe, alle Dinge, die in den Kreis ihrer Erfahrung traten, rasch abzutun. Sie haschte nach allem, was sie lockte, kannte kein Entbehren aus innerer Notwendig­keit, sondern nur aus äußerem Zwang. Dieser schmerzte sie so lange, als der gewünschte Gegenstand nicht ver­gessen war. Sie hatte aber ein schlechtes Gedächtnis für ihre einzelnen Wünsche, weil sie nur Launen und keine Herzenssache waren.

Ellen aber empfing aller Dinge und Ereignung Spur in ihrer Seele. Sie hatte ein zartes, wundersames Ge­dächtnis für alles, was sie je und irgendwie erlebt hatte. Wünsche, die sie einmal gefühlt, sind für sie Wesen, die sie mit sehnsüchtigen Augen umgeben und niemals verlassen. Wenn es auch nur kleine Wünsche sind, so bedeuten sie dennoch viel, weil sie in dieser Kinderseele allein und daher alles sind. Darum kann Ellen niemals so übermütig sein wie ihre Schwester; und wurde sie von dieser mitgerissen, o erwacht sie immer beinahe plötzlich zu ihrem eigenen, solchem Treiben fremden Bewußtsein, und in ihren Augen ist es dann wie Bestürzung über das Unverständliche, das sich ihrer bemächtigt hatte, und sie tastet gleichsam mit ihren Blicken nach -hilfreichen Händen, die ihr das ver­lorene Gleichgewicht wiedergewinnen helfen sollen.

Was Ellens Seele bewegt, zieht behende Linien über das weiche Oval dieses Kindergesichtes und huscht als Licht­strahl oder Schatten über den dunklen, klaren Juwel ihrer Augen. Diese sind wie Offenbarungen eines Wesens, zu dessen Wahrnehmungen wir keine Sinne, zu dessen Er­gründung wir keinen Ernst haben. Sie können eine Freude ausstrahlen, die uns, an der Geringfügigkeit ihrer Ursache gemessen, unendlich und göttlich erscheint. Sie können er­zittern im Schmerz, daß die einzige Träne, die ihnen zögernd entquillt, wie goldenes Blut wirkt, das man einem Kinderherzen entpreßte. Ich habe Ellen niemals weinen gesehen, wie es die meisten Kinder tun: laut, schamlos und mit verzerrtem Gesicht. Ihr Antlitz ver­ändert kaum seinen Ausdruck. Aber das stumme Leid ihrer Seele bestürmt mit grausamen Schauern ihre Scham und Willenskraft, und ihr ganzer Körper mit all seinen Fibern weint unsichtbare tausende von Tränen.

Edith aber vergießt echte, banale Kindertränen. Ihr Weinen zwingt aber auch nicht zum Mitleid. Man kann ebensogut lächeln zu ihren drollig verzogenen Mienen und der meist geringfügigen und trivialen Ursache ihres Kummers, der immer in einem Versagen oder Verbieten wurzelt. Fällt dies weg, so ist auch ihr ganzes Leid fast augenblicklich vorüber.

Ellen aber empfindet den Schmerz als etwas ihr Natür­liches, Eigenes. Darum ist auch nur sie des Mitleids fähig; und ist ihr Weh durch irgendein Erlebnis oder Mitgefühl erweckt, so tönt es noch lange nach, auch wenn die Er­füllung eingetreten oder der Grund des Mitleids weg­gefallen ist. Darum ist ihre Freude niemals laut und maß­los, nicht blitzend, aber stark und ruhig flammend wie die Glut im Dämmer eines Heiligtums. Ihre Freude scheint nichts Vergängliches zu sein. Wir sehen sie mit segenfroher Kraft durch die Seele dieses Kindes eine helle Straße ziehen und wissen, daß da unendlich viel Güte und edle Schönheit aus- und einwandern wird.

Ediths Freude aber gleicht einer Schelle, die zwar klirrt und lärmt, aber keinen sanften, schwingenden Nachhall hat. Darum ist auch ihr Lachen tonlos und abgebrochen, wie ihre Kinderstimme rauh und ohne die mannigfachen Akzente einer erlebnisreichen Psyche ist. Ediths Freude ist etwas, was zu ihrem sonstigen Zustand hinzukommt, dem Lachen gleichend, das durch Kitzeln entsteht. Sie ist keine bisher in ihr schlummernde Möglichkeit, die auf den Ruf des Glückes erwachte. Darum ist Ediths Freude häufiger und lauter, weil sie nicht so sehr ein Ereignis und inner­lich ist. Edith ist eigentlich immer heiter; sie hat das glück­lichere Temperament. — In allem aber zeigt sich, daß sie nicht bloß durch ein Jahr von ihrer Schwester geschie­den ist, sondern durch die Kluft einer ganz anderen Ver­anlagung. Dies wird Edith aber nie fühlen; denn da sie leicht zufrieden ist, wird sie leicht glücklich sein; und das Glück macht gedankenlos, wenn man nicht von Natur ein Weiser ist.

Ellens reiche Seele aber schmückt alle Dinge der Zu­kunft mit den Reizen holder Unmöglichkeit.

Ellen wünschte einmal zum Christkind eine Puppe mit beweglichen Augen und echten, blonden Haaren. Auch „Papa" und „Mama" sollte sie sagen können. Und Frau von Lorain versprach, es dem Christkind zu schreiben.

Nun  träumte Ellen bei Tag und  Nacht von dieser Puppe und sah ihre eigenen kleinen Fingerchen über die goldenen Haare des Babys streicheln, sah es die Augen schließen, wenn man es neigte, und hörte es „Mama" rufen mit einer lieben, lieben, klingenden Kinderstimme. Und das Christkind brachte die Puppe — und sie war fast so schön, als Ellen geträumt hatte. Dann aber zog sie mit erwartungszitternden Händchen an der Schnur, die en lieben klingenden Kinderlaut hervorzaubern sollte — und es war ein häßliches Kreischen.

Ellen behielt ihre Puppe lieb — aber an dem Schnürchen zog sie nimmer. Die Stimme hatte sie enttäuscht.

Edith aber wartet nur, bis ihre Schwester das Spiel­zimmer verläßt und bei Mama Stunde nimmt. Dann schleicht sie zum Kinderwägelchen, in dem die Puppe liegt, und läßt sie „Papa" und „Mama" quietschen und lacht dazu in ihrer heimlichsten Freude.

Wenn man sie aber fragt: Gefällt dir die Stimme der Puppe? — so wird sie ohne Bedenken ihr Wohlgefallen verleugnen und sagen, was sie von Ellen gehört hat. Sie schämt sich also ein wenig, anders zu sein als ihre Schwester. Sie hat nicht die Freiheit und den Stolz der eigenen Persönlichkeit. Sie hat nicht das Gefühl, etwas zu ein, sondern vielmehr die beständige Empfindung, irgend etwas nicht zu sein. Darum ist sie auch leichter zu erziehen. Denn sie nimmt alle Maßregeln und Weisungen mit unbedingtem Gehorsam entgegen. Sie glaubt, dadurch etwas zu sein und zu werden, was sie bisher nicht war, was anders und daher erstrebenswert ist. Dies alles aber mit der instinktiven Berechnung auf ein besseres Ergehen. Sie folgt aus Egoismus — Ellen aber, um durch ihren Gehorsam Freude zu bereiten, aus Liebe. Und die Kluft tut sich auf, die Unendlichkeit, die diese beiden Kinderseelen voneinander scheidet.

Damit lüftet sich mir aber auch auf einen Augenblick der Schleier, der über das ferne Schicksal dieser Kinder gebreitet liegt, und ich weiß, daß Edith glücklich sein wird, .. weil sie hübsch sein und mehr Menschen gefallen wird als Ellen. Schon deswegen wird sie glücklicher sein, weil es viel leichter ist, geliebt zu werden, als ein Wesen zu fin­den, das fähig ist, unsere Liebe würdig zu empfangen. Edith wird die Wahl haben unter Vielen, Ellen aber wird bangen nach einem Einzigen. Edith wird das Leben immer nehmen, wie es ist. Eilen aber wird es immer wollen, wie sie es träumt, und sie wird es immer anders finden. Edith wird sich in den Menschen nicht irren, weil sie von ihnen nicht mehr erwarten wird, als diese an oberflächlicher Liebenswürdigkeit und gedankenloser Güte geben; und solchen Gebens ist die Erde voll. Ellen aber wird die Menschen mit dem edlen Geschmeide ihrer wahren, lieb­reichen Güte schmücken und leiden, wenn der milde Glanz unter anderem gleichgültigen Tand und Flitter verbün­det.

Edith wird das Leben gehören, das Leben mit seinem glitzernden Wellenspiel und seinen bunten, wehenden Bannern. Ellen aber wird vergeblich ihre blassen Hände nach dem Karneval jenes Lebens ausstrecken; sie wird ein­sam sein mit ihrer Liebe und ihrer Sehnsucht tiefem, hei­ligem Weh...

Lange ging ich mit den Kleinen der Frau von Lorain an jenem Tage spazieren. Ein Blick des Frühlings hatte schon den Park gestreift, und Duft und Sonne ruhten über den blanken Wegen, den goldgrünen Wiesen und treibenden Sträuchern, die ahnungslos ihrem Blühen und Welken entgegengehen — wie Kinderseelen.