Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Über "In Ewigkeit Amen"
In Ewigkeit Amen
Über "Armut"
Armut
Über "Dies Irae"
Dies Irae
Über "Liebe"
Über "Kain"

Über "Liebe"

Aus „Der Dramatiker Anton Wildgans“ von Heinz Gerstinger

4. Kapitel

 

 

WARUM LEIDEN DIE MENSCHEN SO SEHR AN IHREM GESCHELCHT (Der Dichter der Liebe)

 

 

 

Am 17. April 1903, an seinem 22. Geburtstag, schreibt Wildgans an seinen Freund Trebitsch: „ .. .,Mutterlos'... das ist der Kern meines Elends. Die Frau, die man nicht und nie begehrt, ... an deren Brust man keine tierische Regung fühlt,... die einzige, die man verehren kann, wenn man auch alle anderen verachtet, diese Frau, Madonna — Göttin — Mutter, habe ich nie gehabt..." Gewiß: Diese Stelle stammt aus dem Brief eines jungen Mannes, der erste Liebesenttäuschungen, erste Desillu­sionen unmittelbar hinter sich hatte, ein Zustand, den die meisten Männer einmal erleben und den er, wie so vieles, was allgemeines Schicksal ist, für individuelle Not hielt. Die Sehnsucht nach dem mütterlichen Ideal und seine starke Sinnlichkeit waren die beiden Pole, zwischen denen sein Liebesleben zum Spannungsfeld wurde, zu seinem Garten Eden und seinem Golgatha, wie er selbst sagte. Er sehnte sich nach einer Liebe, die ein „Nachlassen des Bewußtseins, nicht ein Aufgepeitscht­werden der Phantasie bedeutet". Vor dem reinen Hinter­grund eines abstrakten Ideals mußten alle vordergrün­digen Erscheinungen zu Schatten werden.

 

Nach ersten kindhaften Schwärmereien scheint er immer mehr dem Triebhaften zu verfallen. Die Identifi­kation von Weib und Dirne wird ihm geläufig: nicht zuletzt durch ein (oder mehrere) besondere Erlebnisse, die sich in fast allen Werken aus der Zeit von 1900 bis 1912 manifestieren. So sehr wir um die Wirklichkeit die­ser Geschehnisse wissen, so sehr wir die Frauen kennen oder zumindest ahnen, die seinen erdichteten Modell standen, so sehr er selbst immer wieder betont, nicht aus der Literatur, sondern aus dem Leben zu schöpfen, so wenig dürfen wir die Tatsache außer acht lassen, daß der Begriff des Sexuellen in eben jenen Jahren zum Wesenselement einer neuen Wissenschaft wurde, und zugleich eine verfeinerte Kultur den erotischen Genuß zum Selbstzweck stilisierte. „Die Entwicklung drängt die Frauen unserer großen Städte in den Typus der Dirne", konstatiert Wildgans in diesem Zusammenhang.

Gegen den lasziven Ästhetizismus der Wiener Gesell­schaft um die Jahrhundertwende trat kein Savonarola auf den Plan, wie 400 Jahre früher gegen den Ästhetizis­mus einer allerdings vitaleren Gesellschaft im Florenz der Renaissance, dafür aber — Zeichen der Zeit — ein ebenso leidenschaftlicher Wissenschaftler, 23 Jahre jung, Otto Weininger, für den Weib und Sexualität eins waren, beide abzulehnen, da sie den Mann seiner intellektuellen Kraft beraubten. Für die Frau gäbe es nur die Wahl zwischen Mutter und Dirne, wobei Mutter letzten Endes nur eine verkleidete Form der Dirne sei. Seit 1903, als Weiningers berühmtes Buch „Geschlecht und Charakter" erschienen war, sagte man, Liebe sei keine poetische Stimmung mehr, sondern ein quälendes Gefühl. Was die Polarität des Weiblichen betrifft, aber auch das „quälende Gefühl", stand Wildgans Weininger, dessen Buch er mit größtem Interesse gelesen hatte, sehr nahe; nur daß er im Ideal der Mutter durchaus keine Ver­kleidung, sondern wirkliche Reinheit erblickte. Dabei ist sicher nicht unwesentlich, daß Wildgans mutterlos aufgewachsen ist, während Weininger, dem Intellekt das Höchste bedeutete, seine ungebildete Mutter zeitlebens verachtet hatte. Vielleicht noch bedeutender als der Ein­fluß dieses jungen Genies war der des Dichters Strind-berg auf den jungen Wildgans, nicht nur als Dichter, sondern ebenso in seinem sehr problematischen Verhält­nis zur Frau. Hier fühlte sich Wildgans schon durch das äußere Schicksal verwandt. Auch Strindberg hatte früh seine Mutter verloren, auch sie war, wie die seine, Dienst­mädchen gewesen, auch er nannte sich, nach dem Vor­bild des Schweden, Sohn einer Magd. War Weininger von Einfluß auf das Liebes-, so Strindberg zweifellos auf das Eheproblem in Wildgans' Werk.

Wenn — wie erwähnt — trotz allem persönliche Erleb­nisse für sein Schaffen der wesentlichste Anstoß waren, so ist sein „Pathos des Geschlechtlichen", das den heuti­gen Leser befremdet, zweifellos ein Kind der Zeit. Dieses sprachliche Hinaufstilisieren von sexuellen Gefüh­len wäre in einer Zeit, die diesen keine so revolutionäre Bedeutung zugestand, nicht möglich gewesen.

Schon sein erster Kuß kam aus „Urtiefen des Blutes", die „Qual des Geschlechtes" kristallisiert sich in seinen Sonetten an Ead, und was zuletzt von der Liebe übrig bleibt, ist „ein faulig, süßlich, gestriger Geruch".

Mit 16 Jahren glaubt er, wie der Held seines Romans „Die irdische Maria", seine Reinheit für immer verloren zu haben. „Die Lust haben wir mit den Tieren gemein­sam. Daß wir sie heiligen, ist unser Menschen Vorrecht", schreibt der 23jährige. Als ihm die Trennung von Liebe und Trieb bewußt wurde, fühlte er sich „unrein". „Ich habe Frauen besessen, die ich nie geliebt habe, und Frauen geliebt, die ich nie besitzen durfte", gesteht er, und schließt mit dem Bekenntnis: „Ich habe an diesem Widerspruch zeit meines Lebens gelitten". Ein ähnlicher Gedanke findet im dritten Sonett an Ead (1912) seinen Ausdruck: „Denn Sünde ist, wenn einer sich vergibt /... Und seinen Träumen aus der Sehnsucht Jahren / Wohlfeile Wirklichkeiten unterschiebt". Anders als Dich­ter früherer Epochen, die in der Frau ihre Muse erken­nen wollten, lebt er jahrelang in der Angst, sie könnte ihn der Kunst entfremden, von seiner Arbeit abhalten.

Im wesentlichen Gegensatz zu der Welt des fin de siede findet Wildgans um 1909 aus der Sphäre des gesellschaftlichen Eros, dem es um „Lustgewinn" geht, zum Elementaren. Nicht in Askese und Verzicht, sondern in der Hingabe an das Naturgegebene findet er seinen Ausweg aus den Verwirrungen der Triebge­bundenheit (Rommel). Im Kind erkennt er die Erfüllung der Liebe.

Bevor wir in diesem Zusammenhang auf Dramen und Entwürfe eingehen, sei ein kurzer Hinweis auf ein gewiß sexualpsychologisch auslegbares Phänomen bei Wildgans erlaubt: die Bedeutung der menschlichen Füße für ihn. Schon als Kleinkind, so berichtet er, spielte er mit seinen eigenen Füßen und plauderte mit ihnen, als ob es Gefährten wären. Und das erste, was er „von der Nackt­heit eines Weibes sah, waren eines Weibes Füße". In „Der Löwe" wird erzählt, wie ein Liebhaber Eads Füße küßte, in „Dies irae" sagt Hubert zu seiner geliebten Rosl in Erinnerung an ein Kindheitserlebnis: „Und wie in Kin­dertagen / Die Lippen wieder pressen / Auf die kleine / Brennende Wunde / Deines tausendmal / Geträumten Fußes..." /, und in „Liebe" findet Vitus Werdegast die Füße seiner Gastgeberin „geistvoll". Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Wieder steht am Anfang ein allgemein pubertäres Erlebnis, das Wildgans als sein eigenes, per­sönlichstes, empfindet: das Spannungsfeld von Angst und Sehnsucht jenem weiblichen Idol gegenüber, das junge Männer mehr erträumen als erleben, indem sie die Dirne zum Dämon aufwerten. Ead nennt Wildgans die­ses Urweib, das Heinrich Satter als Lilith bezeichnet. Von 1902 bis 1912 wird sie zum Inbegriff des dämonisch Weiblichen in allen Werken des Dichters, bis er nach eigenen Worten durch die „Sonette an Ead" eine wichtige Periode seiner inneren Entwicklung abschließt. Ob eine einzige Frau Vorbild Eads war, ob mehrere, oder sie im wesentlichen der Phantasie des Dichters entstammt, ist schwer zu sagen. Gewiß ist Ead identisch mit Onda, der ein Gedicht gewidmet ist und die im unvollendeten Drama „Herr ölwein" ihren Mann mit einem Künstler betrügt. Diese Onda soll im Leben des Dichters Emma Mundt geheißen haben. Wildgans hat sie in einem der Steinhausener Sommer kennengelernt. Aus der gleichen Zeit wissen wir aber auch von seiner Liebe zu einem Mädchen namens Adele, von der er in einem Entwurf seines Lebensromans unmittelbar vor der ersten Erwäh­nung des Namens „Ead" berichtet. Dieses blutjunge Geschöpf, das er als besonders lieblich beschreibt, wird aber wohl kaum mit jener Dämonin zu identifizieren sein, eher wurde sie Opfer einer neuen, gefährlichen Liebschaft des Dichters. Soweit die Spekulationen von Wildgans' Gattin. Sachlicher schreibt Heinrich Satter, der als Eads Urbild eine Ärztin und „nicht mehr die jüngste" angibt, die nach Wildgans' Australienreise bereits mit einem anderen Mann liiert war. Obwohl aller Wahr­scheinlichkeit nach mehrere Erlebnisse den Begriff „Ead" formten, dürfte die Sattersche Mitteilung die wirklich­keitsnächste sein. Sie entspricht der Beschreibung Eads in dem Roman „Die irdische Maria", aber auch der Ead im Einakter „Der Löwe", wo es sich ebenfalls um eine schon reifere Frau handelt.

Das dämonische Weib — wir finden es in vielen Ju­gendwerken bedeutender Dichter dominierend (denken wir nur an Goethes „Adelheid" im „Götz" oder Schillers „Julia" im „Fiesko") — beherrscht auch die ersten ernst zu nehmenden dramatischen Werke unseres Autors. Wie schon erwähnt, steht im Fragment „Herr ölwein" (be­gonnen 1904) eine Frau Onda zwischen zwei Männern.

Im Dezember 1912 schreibt er in sieben Tagen einen ersten Entwurf des Stückes. Onda lebt in unglücklicher Ehe mit dem arbeitsamen Meister ölwein und in ehebre­cherischer Liebe mit dem jungen Maler Eberhard. Ihrem Sexus sind beide Männer hörig. Eberhard, der das Ver­hältnis verabscheut, versucht vergeblich, sich zu befreien, ölwein, als er keinen anderen Weg mehr sieht, Onda zu halten, droht ihr mit dem Verlust seines Vermögens. Trotz ihrer Sinnlichkeit unterwirft sie sich diesem Argu­ment. Als ölwein erfährt, daß sie schwanger ist, scheint für ihn aller Zwiespalt behoben, denn er weiß nicht, daß das Kind nicht von ihm, sondern von Eberhard ist. Dieser kann dem allen nicht länger zusehen und reist, nachdem er Onda vergeblich zur Flucht überreden wollte, ab. ölwein bedauert ihn wegen seiner „hoffnungslo­sen" Leidenschaft für Onda, die er längst bemerkt hat, ist aber viel zu stolz, anzunehmen, daß die beiden ihn wirklich betrogen haben. Nun, da sie ein Kind erwartet, wird alles wieder gut werden. Vor so viel naivem Glauben ist es Eberhard unmöglich, ihm, wie er ursprünglich beabsichtigte, vor seiner Abreise die Wahrheit zu sa­gen ... Die Gestalten sind durchwegs aus dem Leben, sowohl Eberhard als ölwein haben viel vom Dichter selbst. Besonders bemerkenswert ist ölweins rascher Wandel von naiver Gläubigkeit zu aktiver Geschäftig­keit, was nicht zuletzt auch aus seinem Verhalten Onda gegenüber zu erkennen ist: einmal vertraut er ihr gren­zenlos, dann wieder versucht er, sie durch Geld und Geschenke zu halten. Da nach Kenntnis dieses ersten und einzigen Entwurfes das Stück vor allem ein Liebesdrama ist, verwirrt die spätere Idee, das Stück „Arbeit" oder „Geld" zu nennen.

Wildgans wollte „Armut", „Liebe", und „Arbeit" als Triptychon aufgefaßt wissen, wobei er das letzte Werk als sein wesentliches betrachtete. Er hat es, nach wieder­holten Ansätzen, nicht ausgeführt, „da dessen Gestalten noch zu sehr mit ihren lebendigen Vorbildern verwachsen sind".

Die meisten dramatischen Fragmente des jungen Wild­gans kreisen thematisch um das Spannungsfeld zwischen Eros und Liebe. Ihre Inhalte wirken zum Teil spätpuber-tär, sind aber zweifellos auch vom Zeitgeist beeinflußt, der durch die Entdeckungen Freuds und anderer dem Sexualleben eine bisher nie erwartete Bedeutung ein­räumte. Zudem scheinen die unter dem Titel „Schloß­geschichte" vorhandenen Entwürfe, an denen Wildgans bis ins Jahr 1916 gearbeitet hat, deren Ursprünge aber wahrscheinlich in der Zeit seines Mokritzer Aufenthaltes 1903 zu finden sind, von der neuromantischen Vorliebe für alles Gruselhafte und Makabre beeinflußt. Ein „per­verses Unkenschloß" ist da zum Beispiel der Schauplatz von „Evelin und der Krüppel", dessen alte Herrin Knechte und Mägde während des Liebesaktes überfällt und peinigt. Die Liebe ist verbannt, der Trieb herrscht. Weil sich seine Gemahlin ihm eines Nachts versagt, ver­bringt der Graf die nächste in Gesellschaft von Dirnen, während sein Freund die Gräfin aufsucht. Ein Krüppel, der diese ebenfalls liebt, muß Wache stehen. Aber der Freund entpuppt sich als impotent, die Gräfin verlacht ihn und gibt sich dem Krüppel hin. Der heimkehrende Graf erschlägt diesen, die Gräfin wird wahnsinnig und treibt es nun mit ihrem Mann, den sie für den erschla­genen Krüppel hält. Der Gegensatz Trieb — Liebe wird theatralisch durch den Gegensatz von Katzengeschrei und einer Schumannsonate angedeutet. In einer späteren Fassung ist das gleiche Thema auf eine höhere Ebene verlegt. Aufgrund einer etwas verqueren, aber für den jungen Wildgans typischen Liebespsychologie entsteht hier der Konflikt. Der Graf hat seine Frau nur aufgrund des jahrelangen Einflusses des geistig dominierenden Freundes gewählt. Dieser, nach langer Zeit wieder auf Besuch, erkennt in der Frau eigentlich sein Ideal, und auch die Frau weiß jetzt erst, wem sie von Rechts wegen gehört. In einer letzten Fassung unter dem Titel „Katzen­musik" läßt der Autor noch einen Unsichtbaren als Sym­bol des Unterbewußten durchs Spiel geistern. Endlich entwickelte sich aus dem gleichen Stoff die Bühnenfas­sung der „Irdischen Maria", die mit dem gleichnamigen Roman nur die innere Handlung gemein hat. Anfangs­und Schlußszene sind vorhanden. Auch hier wechselt die Frau vom Mann zum Freund, aus den gleichen Motiven wie in der zweiten Fassung der Schloßgeschichte. Doch geht es Wildgans dabei zugleich um den Gegensatz Stadt — Land: die bäuerliche Frau erkennt in dem erdgebundenen Freund ihren eigentlichen Partner, während ihr Mann das Landleben nur theoretisch bevorzugte. Daß es sich bei Mann und Freund um die zwei Seelen des Autors han­delt, ist einleuchtend.

„Abschied" ist ein geplantes dreiaktiges Trauerspiel, ganz nach Schnitzlerschem Vorbild, mit der „Dame" und dem süßen Mädel in den Hauptrollen. „Die Visitenkarte" bringt wieder das bei Wildgans beliebte Motiv des Man­nes, der die Frau seines Freundes begehrt, diesmal als Lustspiel. Das Einakter-Fragment „Revanche für Ehe­bruch" sollte einen Frauenraub im Zeitalter der Renais­sance schildern. Auch hier ganz nach zeitgenössischen Vorbildern: Neuromantik in Versform. In der Burleske „Lebendige Ware" wollte Wildgans die Aufklärung durch bornierte Eltern satirisch behandeln: während sich diese den Kopf zerbrechen, wie sie es ihrer Tochter erklären sollen, hat diese längst ihre Liebhaber. Im Dreiakter „Ein phantastisches Spiel" war die Geschichte einer Dirne geplant: als sie zum ersten Mal richtig liebt, erkennt sie die Wirklichkeit und wird nun endgültig zur Dirne. Ein letzter Versuch über ein erotisches Problem stammt aus dem Jahre 1924: „Der Mann, in den sich alle Frauen verlieben". Wildgans erwog die Geschichte eines Mannes, der auf alle Frauen unwiderstehlich wirkt, aber unzugänglich ist. Das Ergebnis: Die Frauen müssen Befriedigung in „stellvertretenden Verhältnissen" fin­den.

Thematisch bereits dem Drama „Liebe" sehr nahe kommt der Entwurf „Treue — Das andere Heim" aus dem Jahre 1912. Hier gelingt es dem Mann nicht, seiner Frau begreiflich zu machen, daß er sie nicht mehr liebt. Bei einer Geliebten findet er alles, was er bei seiner Frau vermißt. Sie macht ihn „gut". Als ihn seine Frau bei dieser überrascht, macht er der Frau wegen ihrer Treue Vorwürfe. Ohne Liebe wäre sie nur zum Schaden des Menschen. Viel besser wäre es, auseinanderzugehen, wenn man sich entfremdet fühlt. Dadurch bliebe die Liebe bestehen, denn dieses Auseinandergehen, dieses Sich-Freigeben wäre ein letzter, bleibender Liebesakt.

Die Fülle dieser Entwürfe und Fragmente zeigt, wie sehr sich der Dichter mit erotischen Problemen konfron­tiert fühlte und sich von ihnen zu befreien suchte. Künst­lerisch sind sie von höchst ungleicher Qualität, doch wäre es ungerecht, Unausgereiftes, vielleicht aus einer ersten Begeisterung Hingekritzeltes werten zu wollen. Wesentlicher für die Betrachtung des Dichters sind daher seine vollendeten vier Einakter, die er unter dem Titel „Menschen" zu einem Zyklus zusammenfassen wollte. Für diese Form des Einakterzyklus fand er Vorbilder bei Strindberg. Es sollten Situationsskizzen sein, denn „Spannung, Verwicklung und Steigerung im äußeren Geschehen wurden als veraltete Requisiten erkannt". So schreibt er selbst im Vorwort zu den vier Einaktern 1917, was befremdet, da er in dieser Zeit an „Dies irae" arbei­tete, das alle diese „veralteten" Requisiten aufweist.

Den ersten der vier Einakter, „Das Inserat", haben wir in anderem Zusammenhang schon besprochen. Sie alle stammen aus den Jahren 1911 und 1912.

Zumindest in der äußeren Form noch stark von Schnitzler beeinflußt ist die tragische Szene „Freunde", deren ursprüngliche Titel „Affaire", „Vor dem Duell" und „Dreikampf" lauteten.

Georg soll sich mit dem Geliebten seiner Frau duellie­ren. Aber er kommt zur Erkenntnis, daß er sie selbst in die Arme des ändern getrieben hat, da sie von Anfang an für diesen bestimmt schien. Er will nicht mehr schie­ßen. Darüber empört sich sein Freund Wilhelm, der selbst die Frau liebt, und aus rasender Eifersucht auf den Liebhaber dem Gatten alles verraten hat. Er kann nicht zusehen, wie ein Mensch, der diese Frau unrechtmäßig besessen hat, ungestraft weiterleben soll. Da läutet das Telefon: Der Liebhaber hat sich erschossen. Rommel will in dem Stück vor allem einen Protest gegen die Kon­vention sehen.

In der Szene „Der Löwe" geht es um die Auseinander­setzung zwischen Ead, der mondänen „eiskalten" Frau, und Grete, dem „Schäfchen", der treuherzig-naiven. Die Polarisierung des Weiblichen in diese beiden Typen ist ein häufiges Phänomen in Jugenddichtungen. In diesem Falle ist Ead zu Gast bei der jungen Frau eines Profes­sors. Diese erzählt, während sie auf ihn wartet, von einer früheren Geliebten ihres Mannes, die ihn nur als Mann, nicht um seines höheren Strebens willen geliebt hat. Ead versteht es, durch geschickte Fragen immer Detaillier­teres über das vergangene Liebesleben des Gatten zu er­fahren, bis sie brutal zugibt, selbst diese Geliebte gewe­sen zu sein. Als sie mit Grete den Mann erwarten will, weist ihr diese die Tür. Die Quintessenz aus Eads Ver­halten: „Der Mann will nicht den Menschen im Weib, sondern das Tier."

In „Wechselfieber", drei Szenen (ursprünglicher Titel „Mütter"), verliebt sich Lea, eine reife Frau, in den jungen Pianisten Max. Der spielt den Moralischen. Nur wenn sie ihn heiratet, darf sie ihm gehören. Denn nur dadurch kann er an ihr Vermögen herankommen. Fast sagt sie ihm schon zu, da kommt ihre Tochter nach Hause und berichtet, daß sie ein Kind erwarte. Waruni Lea aufgrund dessen Max nicht heiraten kann, ist unerklär­lich. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn für eine Nacht als Geliebten zu bezahlen. In der ersten Fassung will sie ihre Tochter zur Abtreibung zwingen. Nur drei dieser Einakter sind gespielt worden, und auch diese nur in einer Inszenierung, obwohl sie, dramaturgisch gese­hen, kleine Meisterwerke sind.

Die Quintessenz seiner gesamten Liebeserlebnisse nennt Wildgans selbst seine Sonette an Ead und beweist damit, daß Ead in vielerlei Gestalt in sein Leben getreten sein muß. Daß allerdings die Frau, um derentwillen oder besser gegen deren Willen er die Reise nach Australien freudig angenommen hat, um vor ihr zu flüchten, die zentrale Gestalt war, scheint ebenso festzustehen.

Als er 1915 die Arbeit an seinem Drama „Liebe" be­gann, hatte er die große Krise um Ead überwunden. Die Sonette stammen aus dem Jahre 1912. Und wieder läßt sich seine Biographie aus dem Werk ablesen: Wildgans ist in „Liebe" auf der Suche nach dem Sinn der Ehe, die er in jugendlichen Werken mehrmals in Frage gestellt hat. Jetzt erkennt er ihre Notwendigkeit und ihre Nöte, um zu dem resignierenden Schluß zu kommen: „Das Aufeinanderangewiesensein muß die Liebe ersetzen".

Auch über Idee und Absicht der Tragödie „Liebe" gibt Wildgans selbst in seinem Brief an Emil Reich vom 8. Jänner 1930 Auskunft. Dort heißt es:

„Das Bild einer Ehe zwischen zwei sittlich hochstehen­den Menschen, die in wahrer Liebe zueinander gefun­den haben und trotzdem nicht verschont bleiben von dem Zweispalt der menschlichen Natur, welche die „himmlische" und die „irdische" Liebe in sich beherbergt. Beide sehen die Gefahren, die ihnen aus den Abgründen des Blutes her drohen, mit voller Deutlichkeit. Aber diese Erkenntnis allein vermag sie nicht zu feien. Sie müssen beide, jeder in seiner Art, in Versuchung geraten und diese Versuchung siegreich bestehen, ehe sie — frei­lich nunmehr umso wissender! — wieder zueinander fin­den. Die Voraussetzung für diese innere Wiedervereini­gung ist rückhaltlose Wahrheit. So beichten diese beiden Menschen im letzten Akt ihre — Gedankensün­den. Der Mann gelangt hiedurch zur Vergeistigung des Trieblebens und zur Kraft der Entsagung, die Frau zur Kraft, die Entsagung als Schicksal zu dulden, beide zu dem Trost, mit solchem Leid nicht allein auf der Welt zu sein." Nur drei Jahre sind seit dem Plan zu „Treue — Das andere Heim" vergangen, und Wildgans ist zu einer völlig neuen Auffassung von Liebe und Ehe gelangt. Die Treue, die er damals als „Lüge" entlarven wollte, wird jetzt mit Hilfe der Wahrheit zum Unter­pfand der Ehe. Das Werk, zweifellos wieder aus eigener Lebenserfahrung geschaffen, hat seinerzeit großes Auf­sehen erregt. Heute wirkt es, um dies gleich vorwegzu­nehmen, am veraltetsten von allen Dramen des Autors: als pathetische Sentimentalität von geringer Glaubwür­digkeit, wenn auch einigen Szenen poetische Aussage­kraft nicht abgesprochen werden kann. Ein bürgerliches Ehepaar erkennt nach mehreren Jahren Ehe, daß die Liebe geschwunden ist. Ihn treibt wildes Begehren aus dem Haus, in einem Bordell sucht er Befriedigung, bringt es aber zuletzt doch nicht ums Herz, sich mit einer Hure einzulassen. Währenddessen empfängt seine Frau den Besuch eines Freundes ihres Mannes, eines Geigers, der eben aus Australien zurückkehrt. Auch hier entbrennt eine Leidenschaft, aber sie bleibt plato­nisch, da die „Frau des Freundes" dem Geiger Vitus heilig ist. Im letzten Akt, der wieder durch seine Versifizierung überhöht wirken soll — Wildgans nennt ihn „quasi epilogus sub specie aeternitatis" — gestehen sich die beiden ihre Gedankensünden und finden auf diese Weise wieder zueinander: „Das ist das Ende der Liebe", stellt die Frau fest, während der Mann in dieser Beichte ihren Anfang erblickt. Denn „der strauchelnde Fuß eines, der aufwärts sieht, / Findet noch immer mehr an irdischer Schönheit / Als das Auge des Toren, das nur auf der Erde sucht".

Die erste Fassung, am 14. Juni 1915 in Mönichkirchen begonnen, hat mit dem späteren Werk nichts gemein. Sie beginnt mit einer Gerichtsszene, im Mittelpunkt der Handlung steht ein Schenkmädchen namens Zua. Von der zweiten Fassung, die Wildgans „5 Szenen aus einer Tra­gödie des Alltags" nennt, existieren 36 Seiten. Die dritte Fassung endlich ist der letzten bereits sehr ähnlich, die Exposition ist banaler. Stark unterscheidet sich allerdings die Hurenszene von der endgültigen Fassung. Wir erfah­ren genaues über das soziale Milieu, aus dem die Dirne Wera stammt. Am Ende des Aktes zieht sich Martin nicht zurück, sondern „wirft sich über sie. Sie empfängt ihn in ihren Armen. Der Automat spielt seine stumpfsinnige Melodie unentwegt. Ein grelles Hurenlachen kreischt ne­benan. Der Vorhang fällt." Und am Ende des Stückes erklingt als Dissonanz nochmals das Hurenlachen aus dem 3. Akt.

Bei keinem seiner anderen Stücke finden sich derart viele Varianten zu einzelnen Szenen oder Dialogen. Als besonders schöne Variante führt Ernst Donatin, der Mit­herausgeber der Gesamtausgabe, einen Dialog aus der zweiten Niederschrift an. Anna sagt trotzig, daß nichts geschehen ist. Da erwidert Martin: „Wo fängt Geschehen an, wo hört es auf?" ...

Besonders der Wera-Akt wurde immer wieder verän­dert. Bevor es zum bewußten Entsagen der Endfassung kommt, gibt es noch eine mittlere Variante: Ein alter Herr klopft Martin auf die Schulter mit der Bemerkung, er hätte Wera bereits bezahlt. Froh darüber, überläßt Martin diesem das Mädchen und macht sich auf den Heimweg. Nicht zuletzt waren es begreiflicherweise auch Zensurgründe, die Wildgans zu ständigen Änderungen dieses Aktes zwangen.

Die beiden Freunde, Martin und Vitus, der Geiger, sind ebenso wie die beiden Freunde in der dramatischen Form der „Irdischen Maria" die beiden Seelen in Wildgans' Brust. Vitus schildert er überdies auch äußerlich ganz nach seinem Vorbild. Schließlich war auch er in Austra­lien mit der Absicht, in Asien als Violinlehrer ein neues Leben zu beginnen. Auch die traurige Liebesgeschichte mit einem verblühenden australischen Mädchen ist, wie wir aus seiner Reisebeschreibung wissen, selbst erlebt. Mit der Vorliebe Vitus' für die Musik von Marx setzt er zugleich seinem Freund ein Denkmal.

Es ist nicht uninteressant, daß „Liebe" von allen Wer­ken Wildgans' zu seinen Lebzeiten das erfolgreichste war. Allein die Buchausgabe hat alles bisherige übertrof­fen; ja, von allen Einzelausgaben der Bühnenstücke Schnitzlers brachte es nur eine zu einer größeren Auf­lagenzahl als Wildgans' „Liebe". Auch der materielle Erfolg stellte sich wie niemals sonst ein. 1919 wollte der Dichter das Stück neu bearbeiten, doch kam er nicht mehr dazu.

Der große Publikumserfolg ist vielleicht nicht zuletzt den für die damalige Zeit gewagten Szenen zu verdan­ken, aber gewiß nur zu einem Teil.

Wildgans schreibt selbst in einem Brief an seine Hauptdarstellerin Eise Schilling (26. 11. 16) vom „Pöbel, der massenhaft wegen des Bordellaktes ins Theater läuft", aber fügt hinzu, daß er sich „sehr irren" müßte, wenn es „nicht auch einige wenige Menschen gäbe, für die die Höhepunkte des Stückes anderswo liegen".

Inhalt, Idee und sprachliche Form übten eine faszi­nierende Wirkung auf eine Generation aus, der es vor allem um eine ästhetische Bewältigung neuer psycholo­gischer Erkenntnisse ging. Bis tief in den Zweiten Welt­krieg hinein begeisterte sich eine schönheitsdurstige Ju­gend, die sich vom nationalen Kitsch und Getrommel nicht verführen lassen wollte, für diese sentimentale Variante des Expressionismus, dieses bewußte Gemisch aus hartem Realismus und verträumter Mystifizierung. Man liebte Ideen, wie jene Konsequenz aus Wildgans' „Liebe", wonach nur alle tausend Jahre ein Mensch fähig sei, wirklich zu lieben, weshalb allen anderen nur die Sehnsucht bleibt, die für den Mann Anfang, für die Frau Ende bedeutet. Und man ließ sich, besonders wenn sie von guten Schauspielern gesprochen wurden, von Versen wie diesen umschmeicheln:

„Ein Abgrund ist der Mensch, und was Er spricht und tut, ist nur wie das Gekräusel Von spielerischen Wellen über Tiefen, Die unerforscht und voller Grauen sind."

Oder hatte Karl Kraus recht, wenn er seinen bösen Artikel „Mödling und Wien" in der Fackel von 1921 fol­genderweise beginnt:

„Anton Wildgans, der Autor einer Literatur, in der Privatempfindungen, die, wenn man sie hat, zu haben löblich ist, zu leicht faßlichem Ausdruck gebracht werden und den Begriff, den das Publikum von der Lyrik hat, in vorbildlicher Art erfüllt erscheint; der Typus, in dessen geistigem Umkreis sich in einer jeden Zweifel aus-schliessenden Weise das Schöne mit dem Guten paart, ohne daß das Erlebnis mehr als Zustimmung be­wirkte" ...?

Dagegen kann man freilich Max Mell anführen, der in einem Brief aus dem Jahre 1916 begeistert schreibt: „ ,Liebe' ist wieder wunderschön... Sie haben eine Art zur Höhe zu führen, die sonst nur der Musik eigen ist. Und damit haben Sie — begnadet wie Schubert — der Welt etwas Neues beschert. Nur bei uns in Österreich konnte das erblühen, diese wunderbare Art der Tragödie, die Sie erschaffen haben ..." Wer allerdings Mell kannte, weiß, daß dieser überaus gütige Mann jedes strenge Ur­teil vermied, dagegen mit Lob niemals geizte. Noch hin­gerissener urteilt Franz Karl Ginzkey: „Ich möchte mich vor dem Spiegel ohrfeigen, daß ich das Stück nicht selbst geschrieben habe —." Besonders hat es ihm die Gestalt der Wera angetan, über die er schreibt: „Unerhört kühn und daher lilienrein-appetitlich hingestellte Figur."

Am 18. November 1916 findet im Deutschen Volks­theater in Wien die Uraufführung statt. Hubert Reusch führt Regie, den Martin spielt Wilhelm Klitsch, die Anna Eise Schilling, von deren Darstellung Wildgans beson­ders begeistert ist. Die weitere Besetzung: Mutter — Pauline Schweighofer, Vitus — Ferdinand Onno, einer von Wildgans' Lieblingsschauspielern, ein vornehmer Pathetiker mit einer sanften, aber sonoren Mollstimme, Wera — Nelly Hochwald, Weras Wirtin (die Rollen­bezeichnung aufgrund der Zensur!) — Eise Föry, Greis — Carl Goetz, Stubenmädchen — Hanna Fasser.

Die Polizei hatte schwere Bedenken gegen die Huren-und Bettszene. Der Zensor der Statthalterei hielt es für nötig, „bei Anerkennung des literarischen Wertes" gegen die Aufführung einzuschreiten. Sie wurde nur unter drei Bedingungen erlaubt: 1.) Statt im Bordell mußte der 3. Akt in einer Privatwohnung spielen, mit Wera als Untermieterin und dem greisen Herrn als ihren alten Bekannten. 2.) Im 5. Akt mußten die Schauspieler voll­ständig bekleidet sein, die Szene durfte nicht, wie vor­gesehen, im Bett spielen. 3.) Statt des Wortes Hure mußte Dirne gesagt werden.

Noch diffiziler war die deutsche Zensur. Hier wurden zahlreiche Einzelstellen gestrichen, selbstverständlich die gleichen Änderungen wie in Wien verlangt, und es blieb „vorbehalten, weitere Anordnungen nach Besuch der rechtzeitig anzuberaumenden Hauptprobe zu treffen". Als besondere Kostprobe aus diesem Erlaß des Polizeipräsi­denten von Berlin, datiert mit 2. Februar 1917, sei noch zitiert: „Ferner sind die auf S. 125, 128, 131 eingeklam­merten Worte als teils zu krass, teils zu sehr die Wirk­lichkeiten des ehelichen Lebens entschleiernd, zu strei­chen oder zu mildern."

Der Beifall bei der Uraufführung war enthusiastisch.

In einem Feuilleton aus „Der Abend" vom 20. 11. 1916 nimmt ein Herr Walter zum Publikum Stellung. Er schreibt: „Zum zweiten Mal in der diesjährigen Spiel­zeit geschieht es, daß im Deutschen Volkstheater für eine besondere Zuschauerschar gespielt wird, für eine ,Klasse für sich', für Menschen, die nur nebenbei einen Beruf haben, ihre Hauptbeschäftigung besteht im Zergliedern, Zerlegen eigener Gefühle, sie leben in sich hinein, verlieren sich an ein letzten Endes nie erforschtes Unterbe­wußtsein, die greifbare Umwelt dämmert nur in ihren Tagträumen, Ereignisse stehen in der Zeitung, auch Weltkriege, aber alles dies ist ihnen fern,..."

Das Stück selbst fand bei der Kritik wenig Gnade. „ ... eine Tragödie, die alles besitzt, nur eines nicht, das tragische Geschehen...", urteilt die Arbeiter-Zeitung vom 19. 11. 1916, und Felix Saiten beklagt im „Fremden­blatt" vom 19. 11. 1916 die zu starke Typisierung. „ ... Dieses Streben", schreibt er, „zu wenigen unper­sönlichen Typen empfinde ich als einen artistischen Irrtum... Die Kunst des Dramatikers besteht eben darin, uns Gesichte und Gesichter zu geben, nicht aber Be­griffe." Auch für Saiten, wie für die meisten Kritiker, ist das beste am Stück seine Lyrik. Oder schrieb man dies nur, weil Wildgans als Lyriker bereits einen Namen hatte, während man ihn als Dramatiker noch schulmei­stern konnte? Das „Neue Wiener Journal" gibt zwar den Publikumserfolg zu, glaubt aber zu wissen, daß „es nicht immer folgen konnte". Und weiter heißt es: „Man spür­te zuweilen eine Leere, dort, wo man Fülle erwartete. Allerdings hat die fleißig einstudierte Aufführung den Gehalt des Werkes nicht restlos herausgeholt". Und nun folgt, wie in den meisten Zeitungen, eine nicht gerade ablehnende, aber doch recht kritische Einstellung gegen­über Inszenierung und Darstellung. Wildgans war mit seinem Hauptdarsteller selbst nicht glücklich. Klitsch war eine viel zu kraftvolle, geradlinige Künstlernatur für den feinnervigen, eher dekadenten Martin. Am be­sten kamen die Nebenrollen weg, die blutjunge Darstel­lerin der Wera und Herr Götz, der den greisen Herrn spielte. 25mal wurde das Stück noch in der gleichen Spielzeit gegeben und in den folgenden Jahren an den meisten deutschen Bühnen mit großem Erfolg gespielt. Dresden lud den Dichter zur 50. Aufführung des Stückes ein (24. 9. 17).

1918 kam es zu einer Neuinszenierung an den Kam­merspielen in Wien. Zwar hätte laut Vertrag Direktor Wallner vom Volkstheater das Stück neu in Szene setzen sollen, doch da er keine Anstalten dazu machte, klagte ihn Wildgans auf 4000 Kronen und löste die Bindung zu seinem Theater. Als er das Stück nunmehr den Kammer­spielen übergab, wußte er noch nicht, daß deren Direk­tor Bernau, der auch Regie führte, während der Proben­zeit zum neuen Direktor des Volkstheaters gewählt wurde. Die Kritiken zur Premiere am 12. Februar 1918 sind kaum besser als die zur Uraufführung, jedoch scheint, wenn wir annehmen, daß er mit der Meinung seiner Frau übereinstimmte, der Dichter selbst viel zufriedener gewesen zu sein. Lilly Wildgans fand die Inszenierung weitaus besser.

Endlich spielte der Lieblingsschauspieler ihres Mannes, Ferdinand Onno, den Martin, dessen Nervosität er zwar noch um einiges übertrieben darstellte, aber doch weit richtiger als sein Vorgänger und auch um vieles tref­fender als seine Darstellung des Vitus in der Urauffüh­rung, einer Rolle, die ihm geradezu widersprach. Über die Darstellerin der Anna, Margarete Kökeritz, schreibt die „Neue Freie Presse" vom 13. 3. 1918, sie wäre „weicher und anmutiger als Eise Schilling, blieb aber trotzdem der Anna manches schuldig". Als Bernau das Stück 1920 ins Volkstheater übernahm, spielten wieder Onno und die Kökeritz die Hauptrollen. Diese Inszenie­rung brachte es zu 25 Aufführungen!

Aber erst am 17. März 1927 kam „Liebe" im Akade­mietheater, der Dependance des Burgtheaters, heraus. Regie führte Otto Tressler, Remigius Geyling schuf das Bühnenbild; es spielten Hans Marr und Eise Wohlgemut, Tressler selbst den Vitus, dazu die Wilbrandt, als Wera Hilde Wagener, Witt, Strassni und Burg. Jubelnder Ap­plaus begrüßte bei der Premiere den anwesenden Dichter.

Der Dramaturg Josef Karl Ratislav betont in seinem Programmartikel den lyrischen Charakter des Stückes. Aber „die Kraft seines [des Dichters] Gefühls sprengt diese Form und zwingt ihn zum Drama, in dem aber das Höchste und Stärkste wieder Lyrik wird", schreibt er. Bezeichnend ist auch Ratislavs Ansicht von der Ethik des Werkes. Ihm erscheint der Dichter nicht nur als Erken­nender, sondern als einer, der „der Welt außer der Qual des Suchens auch die Süße des Findens geben" will.

Entgegen dem Wohlwollen der Theaterverantwortli­chen und der anhaltenden Begeisterung des Publikums ist die Kritik wieder im wesentlichen negativ. Während die Darstellung bis auf den Martin Hans Marrs, der eine ähnliche Fehlbesetzung wie seinerzeit Wilhelm Klitsch gewesen sein muß, durchwegs mit Lob bedacht wird, findet man an dem Stück wenig Positives. Man bemän­gelt die Dominanz der Lyrik und die Handlungsarmut des Werkes, spricht von „unausgewogenem Nebeneinan­der von hoher geistiger Reife und Pubertätstaumel" (im übrigen, positiv gemeint, ein treffendes Urteil über Wildgans' Werk!), vor allem aber ist es bezeichnend, daß schon damals, ein Jahrzehnt nach seiner Entstehung, das Stück als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde.

So schreibt die „Arbeiter-Zeitung" (19. 3. 27): „...da­mals empfand man die Probleme ... Heute ist's ein Stück für's Familientheater ... alle Konflikte, alle Erregungen brechen schließlich in Verse aus — und beruhigen sich dabei..."

Aber Wildgans war zu dieser Zeit bereits zu einem neuen Standpunkt gelangt. Ob aus Resignation, aus Selbsterkenntnis oder künstlerischer Einsicht, er bestand auf dem Primat des Dichterischen vor dem Theatrali­schen, „Der Theatererfolg [ist] gerade in unseren Tagen immer weniger ein Maßstab für das Dichterische", schreibt er 1928 an Hofmannsthal.

Während Wildgans gerade durch die „Liebe" die Liebe des breiten Publikums gewonnen hatte, während er immer mehr zum österreichischen Nationaldichter hoch­gejubelt wurde, begannen die ersten heftigen Angriffe: nicht gegen die Person, aber gegen den Dichter Wildgans. Sie kamen zuerst von Einzelgängern, deren literarische Bedeutung den Zeitgenossen noch wenig bewußt war; von Männern wie Karl Kraus oder Robert Musil, die ihrer Zeit weit voraus waren und deren Meinung in vie­lem mit der der heutigen Literaturkritik übereinstimmt.

Gerade an „Liebe" entzündete sich der Zorn Musils, der in den zwanziger Jahren für verschiedene angesehene Zeitschriften Kulturberichte verfaßte. 1922 schreibt er in „Der neue Merkur" nach einigen sarkastischen Bemer­kungen zu Sprache und „Ewigkeitswert" des Gesamtwer­kes: „Es liegt bei diesem Dichter... ein gewisser Mangel an etwas vor, das ich nicht zu nennen brauche, hingegen Überfluß an Reimen. Dieses nichtdaseiende Etwas äußert sich bis in die Regiebemerkungen hinein... Als das Den­ken eines braven Mannes kennzeichnende Eigenheit tritt ein Mangel an Besonderheit des Denkens hinzu. Jemand wird beschrieben als der ,Typus des modernen Großstadt­menschen von geistigem Beruf, eine durchaus normale Frau spricht gelegentlich ,etwas hysterisch', und ein Mann küßt ihr die Hand ,mit einer gewissen Inbrunst'. Dieses gewisse Ungewisse der Beobachtung des Lebens und un­gefähre Verknüpfen der Beobachtung mit bereitstehen­den Redensarten ist die bekannte Psychologie dessen, was allgemein gedacht wird und — allgemein gern mit den ewigen Wahrheiten verwechselt wird, während es doch das einzige auf der Welt ist, was sie falsch zu machen ver­mag." Hier stimmt Musil sinngemäß völlig mit Karl Kraus überein, der Wildgans den Vertreter einer Pro­duktion nennt, die das aussagt, „was sich der Leser auch schon gedacht hat". Es darf nun freilich nicht übersehen werden, daß in Kraus und Musil Wildgans zwei Kontra­henten gegenüberstehen, die als betont intellektuelle Schriftsteller auf alles Ungewisse, Ungeklärte auch in der Dichtung skeptisch reagieren. Sie greifen in ihren Arti­keln nicht nur Wildgans als Hausdichter des kleinen Mannes an, sondern ebenso die neue Mystik des Expres­sionismus, den herrschenden Stil ihrer Zeit. Und es war vice versa eben die Vorherrschaft dieses Stils, die Robert Musil zu seiner Zeit nicht die Bedeutung zukommen ließ, die ihm gebührte. Freilich sind es nicht nur „intellektuelle Mängel", die Musil kritisiert, sondern ebenso solche des Geschmacks: Er schreibt: „Aber vielleicht spürt man ihn (den Mangel an Geschmack) doch ohne weiteres aus Sät­zen wie: ,Ja, wo steckst du denn, Mensch des Erbarmens?!' oder (bei einem Wiedersehen) .Mensch, Freund, Bruder! Nach fünfzehn Jahren!'; so reden nämlich außer Dichtern nur noch Leute, welche gar keine vom Leben fixierte Ausdrucksweise haben, etwa ältere Gymnasiasten oder Gesellschaftsstücke dichtende Kommis" ... „,im vollen Zug geistreichen Übermuts' äußert man sich wie folgt: ,Ich sagte soeben — oder sagte ich es noch nicht? —, daß mir die europäischen Frauen wie Kühe vorkommen, die lieber gemalte Blumen aus Goldrahmen als frischen süßen Klee von grüner, freier Weide fräßen! Bildlich gespro­chen. Sie aber Madonna, scheinen mir hiervon eine löb­liche Ausnahme zu bilden.' Worauf Madonna ,belustigt' erwidert: ,Sehr liebenswürdig, eine Kuh bin ich allerdings nicht.' ... Jedoch Wildgans hat den ,Griff des Drama­tikers. Ohne Abstrich sei dies festgestellt, so daß ... Wild­gans noch immer ein zwar rohes, aber vielleicht starkes Talent sein könnte, also gerade das, was sich das Publi­kum unter dem vorstellt, der es von der Literatur durch sein machtvolles Dichtertum erlösen soll. Ich denke etwa an Szenen wie den ersten Fehltritt eines verheirateten Mannes in ,Liebe'... Aber beim Auswirken des Griffs zeigen sich weniger befremdliche als trauliche Umstände."

Auf diese geht Musil im Anschluß an seine Kain-Kritik in der „Prager Presse" vom 9. Mai 1922 im Detail ein.

Dort schreibt er: „... es zeigen sich schon im Szenarium Umstände, die der deutsche Theaterbesucher ... beachten möge: Mondschein, Abendsonne, rosa Ampellicht, Voll­mondnacht, Mondnacht bilden die Staffage der Zimmer» in denen ,Liebe' spielt."

Hier kann man einwenden, daß eine Aufzählung sol­cher Stimmungen zwar von Kitsch zeugen soll, doch, Hand aufs Herz, eben diese „kitschigen" Elemente in fast allen großen Dramen der Weltliteratur „gebraucht" wer­den, was ihren theatralischen Stellenwert beweist, von dem der intellektuelle Epiker Musil nichts wissen möchte.

„Unter diesen Umständen", schreibt er weiter, „wird der feste Griff immer träumerischer, zumal seine Härte durch Neigungen gemildert wird, wie sie folgender blü­tenlesender Griff ins Gesamtwerk als schon fixierte Vor-Stellungen erkennen läßt: ,Nimm deine Geige, Frau Ver­gangenheit', ,Wäre manchmal gut, wenn Blumen stünden, unter Büchern Blumen, rot wie Sünden'. ,Feile Fäulnis­pracht der Dirne', ,Sie ist die rote Orgie und das Gebet'; Mohntrank des Vergessens, Gier im Blute, Götzendienst, Narrenlachen, Narrenlied, toter Tand sind häufig wieder­kehrende Vorstellungen von höchster Gefühlskraft, und an dramatischen Gipfelpunkten heißt es: ,Ein Geiger hat mich betört!' Oder ,Eine Hure hab ich geküßt', wonach tiefe Stille eintritt, und sogar aus der Unermeßlichkeit des Weltraums ein Akkord einfallen muß ... in dem oeuvre Wildgans wird viel gegattet, ,besamt', Dirnen gleißen, der Föhn bläst unentwegt, Schöße werden auf­gesprengt, und sogar Sodomie gibts an einer Stelle. Dieser Zug der Kühnheit würde auch fehlen, wäre er nicht da. Denn gemeinsam... mit dem stets stark betonten hohe­priesterlichen Selbstgefühl rundet dieser Hang, auch ein­mal ein starkes Wort zu wagen, die Vorstellung, die sich der Spießer vom Dichter macht. Und deshalb ehrt er ihn. Es ist überflüssig zu sagen, daß ein Dichter der Spießer unaufhörlich gegen die Spießer wettern muß ..."

Der Grund, weshalb wir heute die Größe Musils ent­decken und viele von uns seine kritische Meinung über Wildgans teilen, liegt nicht zuletzt in schmerzlicher Er­fahrung. Wir sind nach tausend Jahren nationalsoziali­stischen Mythos' mißtrauisch gegen alles Ungewisse, gegen jedes unbestimmte Gefühl geworden, und ver­trauen lieber dem klaren, dem nüchternen Verstand. Diese Überlegung soll ein Versuch sein, das harte Urteil Musils über Wildgans zu mildern. Zugleich ein Nachweis, daß Wildgans ein Dichter seiner Zeit war, ein Repräsen­tant ihrer Problematik, Musil dagegen ein Künder des Neuen. Deshalb fanden die Zeitgenossen Wildgans als modern, während sie Musil nicht verstanden.

1937, anläßlich des fünften Todestages des Dichters, spielte das „österreichische Theater" (Direktion: Theo Frisch-Gerlach) gemeinsam mit der Anton-Wildgans-Ge­sellschaft „Liebe" unter der Regie von Hans Georg Marek. Die Aufführung wurde gut aufgenommen, es fanden etwa zwanzig Vorstellungen statt. Verdienstvoller Weise spielte in einer Zeit, da Wildgans' Werk wenig gefragt war, eine „Gemeinschaft für Kultur und Literatur" mit Namen „Der Kreis" unter der Regie Hanns Kugelgrubers das Stück in einem Studiotheater in der Margaretenstraße.

Eine Nachkriegsvorstellung in Bochum unter Leon Epp fand beim deutschen Publikum wenig Gegenliebe.

Was man immer gegen dieses einst so umjubelte Stück einzuwenden hat, niemand kann bestreiten, daß es dem Dichter um ein sehr wesentliches Kapitel seines eigenen Lebens ging: um die Überwindung des Triebhaften, das ihn immer wieder von seiner eigentlichen künstlerischen Aufgabe ablenkte, und sein Bekenntnis zum Geist, das sich nur im Entsagen bewahrheiten kann.