Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Über "In Ewigkeit Amen"
In Ewigkeit Amen
Über "Armut"
Armut
Über "Dies Irae"
Dies Irae
Über "Liebe"
Über "Kain"

Über "Armut"

Aus „Der Dramatiker Anton Wildgans“ von Heinz Gerstinger

3. Kapitel

 

ALLES IST ANDERS, WENN ES UNS ARMEN BEGEGNET (Der Dichter der Armut)

 

„Ich lege immer mein ganzes Gewicht in die Schale des Schwächeren", bekennt Wildgans in einer Eintragung in sein Notizbuch, und wir wissen vom jungen Rechtsprak­tikanten, wie sehr er sich für die Strafgefangenen einge­setzt hat. Man mag dies aus dem Geist der Zeit erklären, doch wäre dies nur eine einseitige Erklärung. Denn wir wissen auch von Wildgans' persönlichem Einsatz für die Schwächeren, der selbstverständlich nicht nur den Kri­minellen, sondern auch den sozial Schwachen galt. Seit 1903 schreibt er immer mehr soziale Gedichte und Prosa.

„Da ziehen Tausende aus Ruß und Rauch / Heimwärts, wo jeder sein Glück und sein Elend hat", heißt es im Gedicht „Im Abendneigen" 1905, und in „Vom kleinen Alltag" (1911) klagen die Kinder: „Hunger!" und sind von den Zäunen der hellen Gärten nicht wegzubringen. Aber der Vater sagt herb: „Das ist nichts für uns ..." Das sind Skizzen aus dem großstädtischen Leben, mitleid-erregend, aber noch ohne bewußtes sozialpolitisches Engagement. Dies war, zumindest am Beginn des Jahr­hunderts, vom Sohn eines höheren österreichischen Beam­ten auch kaum zu erwarten. Die Arbeiter in den Vor­städten waren für ihn im besten Fall bemitleidenswerte exotische Wesen. Er kannte sie nicht, kannte nicht ihre Wohn- und Lebensverhältnisse, ihrem Elend gegenüber war er blind. Es wäre ungerecht, ihn deshalb schuldig zu sprechen. Diese Einstellung war das Produkt seiner Erzie­hung, einer Tradition aus einer Zeit, in der das Bürgertum Sitten und Unsitten der Aristokratie übernehmen zu müs­sen glaubte. Und so wie diese das „Volk" niemals als gleichwertig betrachtet hatte, empfand nun auch der Bür­ger dem vierten Stand gegenüber eine gewisse Verachtung, auch wenn er sie durch Wohltätigkeitsaktionen kaschierte. Seine Welt war eng begrenzt, ein Gemisch von Stolz und Demut nach oben, gegenüber Adel und Neu­reichen, und bewußter Abstand nach unten, gegenüber dem Proletariat, dem „Pöbel". Als sich dieses Proletariat organisierte, bekam es der Bürger mit der Angst zu tun: der Angst vor einem Sturz der bestehenden Ordnung, die sein Leben sicherte, der Angst vor einer Revolution. Des­halb war für ihn jede sozialistische Bewegung tabu, bei aller Menschenliebe konnte er da nicht mittun, ging es dieser doch auch um die Ex-Etablierung seines eigenen Standes. Sozialismus bedeutete für den Bürger eine Orga­nisation von Umstürzlern, Feind des Staates, Feind der Kirche, Feind jeder Ordnung. Der Begriff „sozial" war noch möglich, der Begriff „sozialistisch" nicht. Denn unter sozial verstand man Mitleid, unter sozialistisch Revolu­tion. Diese bürgerliche Grundeinstellung bestand bis tief in die Jahrhundertmitte und ist selbst heute noch nicht völlig gebannt.

Auch Anton Wildgans bekannte sich anfangs nur zu einer vagen sozialen Mitleidsgesinnung. Es ist ihm jedoch hoch anzurechnen, daß er wider jede bürgerliche Kon­vention sich sehr bald sozial engagiert hat, bei aller Sym­pathie für die Sozialdemokraten aber selbst nach 1918 niemals parteipolitisch, immer höchst eigenwillig. So pro­phezeit er bereits 1914, daß dem Weltkrieg die soziale Revolution der gesamten alten Welt, vielleicht sogar Amerikas folgen werde. Sechs Jahre früher schreibt er:

„Der Sozialismus ist die Existenzfrage der Besitzlosen und die Ehrensache der Besitzenden." Schon der zweite Satz dieser Abhandlung zeigt deutlich, aus welcher Rich­tung sein Sozialismus herkommt. Wenn es dort heißt: „Denn nur der Besitz macht frei, und nur die Freiheit er­zeugt Menschen", entspricht dies genau den Forderungen der revolutionären Wiener Bürger von 1848 und ebenso dem Geiste Grillparzers, der bei aller Liebe zu den Armen und Unterdrückten vor der Revolution von unten warnte. Auch Wildgans schreibt: „Der Sozialismus der Besitz­losen ist verdächtig, da er nur für sich kämpft und in der Benommenheit seiner Ichsucht das Interesse aller mit dem Seinigen bewußt oder unbewußt verwechselt." Aber im gleichen Essay fordert er: „Der Stolz der Besitzenden soll darin bestehen, den Besitzlosen Besitz zu verschaffen. Die Greuel einer Revolution sind die akut gewordenen Sünden der er, gegen die sie gerichtet ist."

Seine Stellung zum Besitz, zum Eigentum, konkreti­sierte er in einem Brief an Trebitsch aus dem Jahre 1905: „... das Eigentum ... scheint mir in seiner charakterbil­denden Eigenschaft von den Sozialisten verkannt, und ich kritisiere die Forderung, daß niemand Eigentum haben solle, durch die Gegenforderung, daß es alle haben sollen."

Es ist nicht uninteressant, daß er diesen Standpunkt in der Arbeiter-Zeitung, für die er damals schrieb, vertreten wollte. Das beweist, daß sein Sozialismus durch keine marxistische oder andere „Schule" gegangen war, son­dern Produkt seines eigenen Denkens und Empfindens war. Die notwendige unblutige Revolution, die auch er für notwendig hielt, müßte von „oben" kommen. Die „unteren" müßten heraufgehoben, zu Besitzenden ge­macht werden. Nicht „alles gleich — weil alles niedrig", wovor Grillparzer warnte, sondern gleich — weil alles hoch. Man mag dies bürgerlich-idealistisch oder welt­fremd nennen, aber — nach einigem Nachdenken — viel­leicht auch einfach vernünftig. Dem entspricht die lite­rarische Forderung des 19jährigen, auf Grund der er Rommel ihn einen „Aristokraten des reinsten Idealismus" nennt: „Die Poesie des Volkes in allen seinen Schichten kann zwar, wie es uns die Moderne lehrt, die Poesie des Vornehmen sein, die Poesie des Vornehmen aber zu der des Volkes zu machen, hieße mehr als den Fortschritt hemmen. Man soll die stolzen Wartburgen auf den Berg­höhen nicht zerstören, um aus ihren Steinen in den Tälern Hütten zu bauen, denn wer soll das Volk in den Niederungen warnen und schützen, wenn die Warten ge­fallen und die Edlen erschlagen sind?"

Bei aller erwähnten Sympathie zur sozialistischen Be­wegung, die von dieser erwidert wurde, blieb Wildgans immer ein Einzelgänger. Er war ein dichtender An­walt der Armen, kein politischer. Und die Armut, die er kannte, die er am eigenen Leib erlitten hatte, war nicht die der Proletarier und Arbeitslosen, war nicht das Mas­senelend der Vorstädte, sondern eine höchst individuelle: die Armut des Mannes aus „gutem Hause", die ängstlich verborgen werden mußte, da sie sonst Schande bedeutete. Während der klassenbewußte Arbeiter seine zerrissenen Ärmel bewußt vorzeigte, um seine Armut den Reichen zum Trotz zu demonstrieren, versteckte sich der Bürger in den Resten seines Sonntagsstaates, den er liebevoll pflegte, um an Ansehen nicht zu verlieren. Man wirft ihm heute — rückblickend — oft vor, daß er die Armut aus religiösen Gründen duldete, statt aufzubegehren. Ab­gesehen davon, daß das Christentum nirgends Duldung der Armut lehrt (es sei denn der freiwilligen), duldete der Bürger seine Armut weniger aus Gründen vermeint­licher Tugendhaftigkeit als aus Stolz. Duldung war für ihn nicht nur eine Sache der Moral, sondern auch der Ehre. Hätte er aufbegehrt, hätte er seine Armut verraten. Diese Art Armut und die Erinnerung, daß seine Mutter vor ihrer Ehe Dienstmädchen gewesen war, sind Wild­gans' persönliche Gründe, gegen die Ungerechtigkeit so­zialer Ungleichheit einzuschreiten. Während man bei den Gedichten diese Unmittelbarkeit spürt, scheint das dra­matische Fragment „Offizier und Vorstadtmädel", von dem nur der erste Akt vorhanden ist, doch mehr litera­risch als vom Leben beeinflußt. 1900 geschrieben, erinnert es ganz stark an Schnitzlers „Liebelei". Freilich ist es, wie bei einem so jungen Autor nicht anders zu erwarten, weit sentimentaler, allerdings auch von weit stärkerer sozial-kritischer Betonung. Die Armut, nicht ein traditioneller Standesunterschied, ist der sehr realistische Grund, wes­halb Gesellschaftsklassen nicht zusammenfinden. Armut ist auch eines der Hauptmotive in dem Einakter „Das Inserat" (1911). Aus dem ursprünglichen Entwurf zu einer dreiaktigen Tragödie unter dem Titel „Skandal" ist eine „tragische Satire" geworden: Ein reicher Inhaber einer Generalagentur verkauft seine Tochter an einen verschuldeten Offizier, da sie ein Kind von einem armen Dichter erwartet. Als er diesen, damit er das Geheimnis nicht ver­rate, mit Geld abfinden will, schlägt ihm der ins Gesicht. Für den Armen ist Geld eine Beleidigung.

Im Rahmen einer Matinee der Wildgansgesellschaft wurde der Einakter 1947 im Theater „Die Insel" in Wien als Leseaufführung zum ersten Mal gegeben. Die Presse nimmt kaum Notiz davon, nur Rudolf Holzer in der „Wiener Zeitung" spricht von einer „interessanten und bedeutsamen Veranstaltung, die begreifliche Anteilnahme erweckte" (18. 3. 47). Ansonsten wertet man das Stück nur als literarisch für die Entwicklung des Dichters inter­essant. Das gleiche Urteil und die gleiche Desinteressiert-heit eines Großteils der Presse kann bei der verdienst­vollen Aufführung des „Theaters der Courage" 1951 unter August Rieger festgestellt werden, wo neben dem „Inse­rat" noch die Einakter „Freunde" und „Der Löwe" urauf­geführt wurden. Der Publikumserfolg war stark. Unver­ständlich ist es, wieso die Aufführung des Volkstheaters in den Außenbezirken 1970 als Uraufführung annonciert wurde und kein einziger Kritiker diese Falschmeldung korrigiert hat. Trotz einer im allgemeinen gut aufgenom­menen Aufführung (zusammen mit Einaktern von Schnitzler und Saiten) unter Erich Margo wird das Stück fast durchwegs sehr schlecht kritisiert. Der „Express" scheint allerdings nicht vorurteilsfrei, wenn es dort be­reits eingangs heißt: „Wenn das Volkstheater in den Außenbezirken nun im Jahre 1970 ein Stück von Anton Wildgans (1881—1932) uraufführt, kann vollends irgend etwas nicht stimmen..." (2. 5. 70). „Das Stück ist ein lar-moyantes Melodram, das sich mühsam dahinschleppt", schreibt die „Presse" (2. 5. 70), und nur Hugo Huppert in der „Volksstimme" (3. 5. 70) erkennt und anerkennt die Aktualität des Themas von der Macht des Geldes.

Wildgans' eigentliches soziales Drama, das mehr oder weniger seine eigene Konfrontation mit der Armut dar­stellt, entstand 1914: „Armut, ein Trauerspiel in fünf Akten." „Will wieder, wie ein Kreuz, der Menschheit Leid / Auf meines Liedes starke Schultern laden", endet sein etwas selbstbewußter Vorspruch.

Fünfzehn Jahre nach der Uraufführung, am 8. Jänner 1930, gibt er in einem Brief an Professor Emil Reich Idee und Absicht seines Stückes an:

„Hier ist gestaltet: die tragische Bedingtheit der Per­sönlichkeit und ihres Schicksals durch materielle Not. Vom Besitze oder Nichtbesitze einer belanglosen Summe im kritischen Augenblicke kann der moralische Ausgang eines Lebens abhängen. Der Arme vermag nur durch den unermüdlichen Einsatz seiner Persönlichkeit die Ungunst materieller Verhältnisse wettzumachen. Vor Verbitterung und vorzeitiger Verbrauchtheit, vor sittlicher Indifferenz schützt ihn nur die Erkenntnis, die der Held des Stückes (der Gymnasiast Gottfried) im letzten Akt ausspricht:

Ein Amt ist verliehen uns:

Armut heißt es und will verwaltet sein,

Wachsam, keusch und genau ...

Durch diese Erkenntnis verwandelt er das Lähmend-Negative der Armut zu einer das sittliche Handeln be­stimmten positiven und produktiven Kraft. Durch das Einzelleiden an der Armut gelangt er zum Mit leiden mit den Armen, sei es als Mensch, der das Leid der ande­ren bloß fühlt, sei es als Dichter, der das Mitleid zur Tat des Kunstwerkes steigert, sei es als Heiliger, der durch Selbstaufopferung die Brüder vom Leide erlöst."

Daß er im Gymnasiasten Gottfried sich selbst darstellt, gibt Wildgans offen zu. Das Sterben seines Vaters ist der Ursprung des Werkes. Er selbst erzählt, daß er 1905 die Sterbeszene „innerlich empfangen" und den Komplex innerer und äußerer Erfahrungen damals erlebt habe. Ja selbst Äußerliches, wie die Lokalisierung des Sterbe­hauses in die Lerchenfelder Straße 3, dem Sterbehaus des Vaters, und die Gleichsetzung von Gottfrieds Geburtstag mit seinem eigenen, dem 17. April, weist in der ersten Fassung auf das unmittelbare Erleben hin. Das Stück ist allerdings keine Photographie, sondern eine Folgerung aus dem Erlebten. Deshalb ist es Wildgans auch möglich, Nichtfamiliäres, aber für eine österreichische Familie Typisches, einzufügen: etwa den leicht slawischen Akzent der Mutter und den bewußteren des Militärarztes. In seiner Schrift „Einige Andeutungen für den Schauspieler in meinem Trauerspiel ,Armut'" schreibt er über Gott­fried u. a.: „Hiebei spielt bei Mutter und Sohn der sla­wische Einschlag eine gewisse Rolle. Durch ihn werden ihre Charaktere spezifisch österreichisch. Dieses öster-reichertum ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Rolle. Es ist nicht zu verwechseln mit dem Wieneri­schen der bisherigen Literatur."

Als Geburtstag des eigentlichen Stückes darf man den 9. Juli 1913 erklären. Wildgans ruft seine Frau aus Groß­reif ling an: Auf der Fahrt sei ihm der Gedanke zu einem neuen Stück gekommen. Im Stirnerhaus in Mönichkirchen hat er den größten Teil des Werkes niedergeschrieben. Zwei Jahre später, am 20. März 1915, schreibt er wieder an seine Frau: „Es wird ein gutes Stück. Es ist ja mit meinem eigensten Blute geschrieben ..." Und am 2. April des gleichen Jahres kann er melden: „... Das Stück ist fertig ... Ich habe das Gefühl, daß ich nun nicht umsonst gelebt habe." Er hält „Armut" für das bisher Bedeu­tendste, was er geschaffen hat. Und schon 1914 schrieb er an seinen Verleger Staackmann in Leipzig: „... Sie stel­len den Aufführungen die freundliche Prognose, daß sie viele stumpfe Herzen erschüttern werden. Diese Formu­lierung ist mir ganz besonders lieb. Denn gerade darauf habe ich es abgesehen, darin erblicke ich die Aufgabe dieses Dramas ..."

Was war nun diese Aufgabe, die er in der Arbeit an diesem Stück erblickte, was für ein Engagement und wo­für, das ihn mehr ausfüllte und erregte als der Ausbruch des Weltkrieges, von dessen Existenz wir im Stück nicht die geringste Andeutung finden?

Es war, wie sich nach Lektüre des Stückes sofort fest­stellen läßt, nicht ein Appell zu sozialer Befreiung, son­dern zu ethischer Läuterung durch die Armut. Weder im marxistischen Sinn revolutionär noch in einem radikal christkatholischen Sinn die Armut bewußt akzeptierend als Aufgabe, war sein Anliegen ein humanitäres, den libe­ralchristlichen Ideen seiner bürgerlichen Umwelt entspre­chend und diese ansprechend. Dem Vorwurf eines Freun­des, daß in „Armut" nichts Tragisches, sondern nur Trauriges sei, das mit einer Summe Geldes aus der Welt zu schaffen wäre, entgegnet er höchst realistisch und treffend: „Aber wer gibt diese Summe? Da sie eben nie­mand gibt, ist diese Traurigkeit nicht aus der Welt zu schaffen..."

Kurz der Inhalt: Die Familie des kleinen Beamten Josef Spuller ist verarmt. Die Tochter muß ihren kärg­lichen Monatslohn für alle abliefern, der Sohn Gottfried büffelt für die Matura. Die Mutter, Tochter eines Offi­ziers, bereut die „Mesalliance", die sie seinerzeit einge­gangen ist. Eine schwere Erkrankung des Vaters kostet der Familie ihren letzten Besitz. Die Mutter, die sich von Mann und Kindern immer etwas ausgeschlossen fühlt, faßt, nachdem ihr der Arzt die Unheübarkeit ihres Man­nes mitgeteilt hat, den Entschluß, keine Medizinen mehr zu kaufen, sondern die letzten Geldreserven für die Kin­der zu erhalten. In einer mystischen Sterbeszene erscheint der Tod am Bett Spullers in Gestalt von dessen Amtsvor­stand, der ihn lobt und liebevoll zu sich nimmt. Der Mut­ter kommt es jetzt nur noch auf ein „standesgemäßes" Begräbnis an. Ein Versuch des Sohnes, ihr seine Liebe zu gestehen, scheitert an ihrer Härte, die sie zumindest nach außen hin zeigt. Die Tochter, die sich um Geld für Medizinen dem reichen Zimmerherrn hingeben wollte, weiß nun, daß alles umsonst war. Auch Gottfried ver­zweifelt, aber aus seiner Verzweiflung wächst der Zwei­fel, ob nicht auch Armut ein Amt sei, das verwaltet werden muß.

Das Motto, das Wildgans auf ein Blatt der zweiten Fassung notierte, „Dies Gedicht als Trost den Armen / Und den Reichen zum Erbarmen", trifft auf höchst ein­fache Weise die „Aussage" des Stückes. Denn mehr als Trost kann es den Armen nicht geben und mehr als ein Aufruf zur Barmherzigkeit kann es für die Reichen nicht sein. Das scheint äußerst unzeitgemäß in einer Epoche, in der allenthalben Arbeiterbewegungen auf eine radi­kale Veränderung der Gesellschaft hinarbeiten. Aber da­gegen müssen wir dreierlei bedenken: Zum einen, daß Wildgans' Trauerspiel nicht unter Proletariern, sondern unter Kleinbürgern spielt. Zum ändern, daß er, wie er­wähnt, als Bürgersohn das Massenelend bestenfalls vom Hörensagen kannte, und endlich, daß seine „Lösung" des Problems als ethische Alternative durchaus ernst genom­men werden kann. Er selbst hat diese Divergenz zum Zeitgeist gewiß nicht empfunden, sich ganz im Gegenteil gerade zur Entstehungszeit des Werkes mehr oder weni­ger als Sozialist gefühlt, und auch die Leser und Zu­schauer der „Armut" empfanden das Stück eher als revo­lutionär.

Das kleinbürgerliche Milieu ist schon im Bühnenbild angedeutet. Die Familie wohnt im Hintertrakt eines alten Vorstadthauses. An der Wand des Zimmers eine Pendel­uhr, der Öldruck eines landläufigen Marienbildes, ein Kaiserbild. Auf dem Büchergestell die Gipsbüsten Goe­thes und Schillers. Damit ist die konservative Atmosphäre prächtig getroffen: Die Muttergottes und der Kaiser, landläufig, weil es der Tradition entspricht, aber ohne unmittelbare Beziehung. Schiller und Goethe als Beweis eines ebenso traditionellen Bildungsideals. Die Pendeluhr als Repräsentation des „gutbürgerlichen" Hauses.

Der Vater selbst, das Ideal eines pflichtgetreuen Beam­ten, „ist von Natur aus darauf angelegt", sagt Wildgans, „alles Genügen in sich zu finden. Die lebenslange Trost­losigkeit subalterner Beamtenschaft und sein Leben mit einer Frau zusammen, die sein Bestes nicht versteht..., haben ihn äußerlich gedrückt und reduziert gemacht, die Elastizität seiner Seele jedoch nicht zu brechen vermocht. Diese Seele ist Kraft." Er kennt nur die kleinen Freuden des Lebens, aber seine Pflichterfüllung schenkt ihm Zu­friedenheit. Nichts kann ihn mehr treffen als ein auch nur entfernter Verdacht von Unkorrektheit, der er in der frühen Fassung des Stückes bezichtigt wird. Dort kommt noch nicht der Tod als milder Vorstand, sondern der Vorstand in Begleitung eines Polizeikommissars, da eine dunkle Geschichte im Amt aufgeklärt werden soll. In der Letztfassung quält ihn nur der Gedanke, er könnte sei­nen Abschied erhalten. Darüber tröstet ihn der „Fremde", wie der Vorstand-Tod jetzt heißt, hinweg. Und wenig später entgegnet dieser einem Einwand Spullers mit der für Wildgans' Grundidee wichtigen Antwort:

„Schwäche nennst du dein großes Verzichten?! / Glaub mir, nicht viele der Menschenwerke, / Die bewundert auf Erden sind, / Brauchten solche vollbringende Stärke / wie in diesem besessenen Treiben, / Diesem gie­rigen Haschen nach Wind / So ein seliger Armer zu blei­ben, / Wie es du vermocht hast, mein Kind!"

Es ist begreiflich, daß in einer Zeit wie der unseren, in der Kleinbürger als Prototypen des Bösartigen und Ge­meinen dergestellt werden — was aus der Erfahrung über ihr Verhalten in vergangenen Epochen gar nicht so abwegig ist — eine solche ideale Schilderung auf Miß­trauen und Ablehnung zumal bei einem jüngeren Pu­blikum stoßen muß. Und doch hat Wildgans diese Charak­terisierung nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus Kenntnis der Menschen gewonnen, vor allem in Gedan­ken an seinen eigenen Vater. Und daß er nicht alles und alle in verklärtem Licht sah, beweist seine sehr harte Zeichnung der Mutter (daß hier nicht die eigene Stief­mutter Modell stand, beteuerte er in einem Brief an diese) und der Studenten. Vielleicht ist es auch die leicht resignierende Haltung des Vaters, die dem heutigen, nach „Lustgewinn" strebenden Menschen als schwächlich erscheint. Und doch spricht gerade aus ihr eine über­zeitliche Weisheit, die auch wir beherzigen sollten: „Mehr als der Abglanz von allen Sonnen, / Mehr als die Sehn­sucht nach allen Wonnen, / Was sie auch trachten, treiben und sinnen, / Können Menschen doch niemals gewinnen."

- Typisch ist auch der bürgerliche Standpunkt der Mutter: trotz Armut muß der Sohn aufs Gymnasium, ist er doch der Enkel eines Offiziers. Handwerker zu werden, wäre eine Schande. Zum Verdruß der Mutter war der Großvater des Vaters ein Anstreicher. Dazu eine Stelle aus einer früheren Fassung: Die Notizen, die Gottfried in seine Schulhefte macht, sind ihr ein Greuel. Denn hier findet sie — und das trifft auf Wild­gans ebenso wie auf Gottfried zu: „Sozialistische Reime­reien machte er — wahrscheinlich für Winkelblätter — Arbeiterzeitungen — ganz so klingt das Zeug. Rote Fahne, der Neid der Besitzenden, die Blindheit der Reichen, der Tag der Abrechnung. Und das ist mein Sohn, die ich die Tochter eines Offiziers bin." Und in der gleichen Fassung erwidert der Polizeikommissar dem Einwand Gottfrieds: „Ich habe vor Amtspersonen keine Achtung" — „Ach so — ein sozialistisch angekränkeltes Gehirn — das würde die Staatsanwaltschaft sehr inter­essieren!"

Wenn sich nun Wildgans, wie er wiederholt beteuert, mit Gottfried identifiziert, dann eben auch mit dessen „sozialistischen" Ideen. Daß die erwähnten beiden Stel­len in der Letztausgabe nicht mehr aufscheinen, hat wohl nichts mit einem Gesinnungswandel zu tun, sondern sie werden eher aus Vorsicht vor Zensurschwierigkeiten eliminiert worden sein. Geblieben aber ist jene Stelle aus Gottfrieds Schlußerkenntnis, die hart und realistisch den Zustand der Armen bei Namen nennt: „Alles ist anders, wenn es uns Armen begegnet, / Labsal der än­dern, an u n s e r n Lippen, wird Bitternis." Aber unmit­telbar darauf spricht Gottfried seinen, das heißt Anton Wildgans' Glauben an sich selbst aus: auch als Dichter ein Verwalter der Armut zu sein, indem man — wie Christus — zu den Menschen geht und in Gleichnissen zu ihnen spricht:

„ ... Und die Reumütigen führt er zu liebreichem

Werk.

Doch die Verstockten, die Heuchler, die Makler,

die Wechsler

Trifft sein heiliger Zorn mit der Peitsche

ins Fleisch!"

 Und gleich darauf resignierend:    «
„Daß sie durch eigenen Schmerz die Leiden der *r
Brüder erlernen —

Denn dies gottlose Volk hört ja nicht auf ein Gedicht."

Noch einmal betont Wildgans, daß es ihm um die spezielle Armut des Intellektuellen zu tun ist, wenn er Gottfried sagen läßt:

„Abgestanden das Blut und immer doch aufgepeitscht / Von der Sucht des Gehirns, das sich mit allem verbuhlt, / Was uns verschlossen ist! — Das ist ja unsere Armut!" Mit der Verwaltung der Armut aber meint Wildgans letzten Endes, daß es bei jedem Zustand auf das an­kommt, was man daraus macht. Im besonderen Fall ist es wichtiger, etwas zu leisten, als Geld zu haben. (Dazu als Beleg eine später gestrichene Stelle aus dem Ge­spräch Gottfrieds mit dem Handelsjuden Goldsohn: Gott­fried: Sie sind stolz, daß sie einen in der Familie haben, der nur dem Geiste dient und nicht dem Erwerb. Jude: Soll er noch lang nix verdienen — wenn er nur wird berühmt. Gottfried: Sehen Sie, Herr Goldsohn — dessen sind wir Christen in der Regel nicht fähig —).

Hier steht Wildgans in Gegensatz zum marxistischen Sozialismus, die Bagatellisierung materiellen Besitzes ist aus der Bildungstradition seines Standes erklärbar. Aber dieser Gegensatz war damals weder ihm noch den meisten seiner sozialistischen Leser oder Zuschauer be­kannt; das Soziale an sich, gleichgültig welcher Schat­tierung, galt als neu, als revolutionär. Im Zusammen­hang mit dem zitierten Gespräch Gottfrieds mit Gold­sohn darf auch ein Hinweis auf Wildgans' bewußte Ablehnung des Antisemitismus, wie sie hier deutlich er­kennbar ist, nicht fehlen. Das Nationale an sich war ihm seit jeher zuwider — in einer frühen Fassung von „Armut" macht er sich etwa auch über die „völkischen Löffeln" des Studenten Strantz lustig.

Die Form des Stückes, der Übergang von einer reali­stischen, ja fast naturalistischen Handlung in den letzten Akten ins Mystische entspricht dem expressionistischen Stil, wie er in Österreich auch in den fast gleichzeitigen Dramen Hans Kaltnekers zu finden ist. Jedoch betont Wildgans, daß er diese mystischen Szenen durchaus nicht durch eine bildhafte Mystik betont haben möchte. Daß etwa der Vorstand in „Armut" der Tod ist, darf nicht durch äußerliche Wirkungen erkennbar sein. Der Zuschauer muß es empfinden, obwohl die Figuren auf der Bühne völlig realistisch dargestellt sind. Die formale Entwicklung vom Realismus zur versifizierten Über­höhung hat aber auch ihren ideellen Grund. In einem Brief an den Leipziger Dramaturgen Karl Wollf schreibt Wildgans am 12. August 1915: „Daher bin ich auch der Meinung, daß das Drama von der denkbar alltäglichsten Voraussetzung ausgehen soll. Das Tragische, das sich nur aus besonderen Prämissen zu ergeben vermag, interes­siert mich nicht. Handlung des Dramas scheint mir nichts anderes sein zu sollen als jener Prozeß, der aus der Alltäglichkeit der Realität zu einer allgemein mensch­lichen Idee führt. Dies versuchte ich mit , Armut' ..." Was er unter dem Tragischen, das sich nur aus beson­deren Prämissen ergibt, verstand, definierte er später in einer Tagebucheintragung. „Das Tragische des Schick­sals", heißt es dort, „dürfte dasjenige sein, was aus der modernen Tragödie auszuscheiden hat. Anstelle dessen: tragische Menschen und die durch ihre Beziehung zur Umwelt und zu anderen Menschen geschaffene tragische Atmosphäre!"

Ein erstes Lob erhielt der Dichter von keinem gerin­geren als Peter Rosegger, der ihm am 31. 12. 1914 in einem Brief schrieb: „Dank, Dank! Ein erschütterndes Stück. Die Verse in den letzten Akten von großer Schön­heit. Aber die Mutter verstehe ich nicht."

Noch 1914 hatte Wildgans sein Werk dem Volksthea­ter-Dramaturgen Glücksmann übergeben, voll Mißtrauen gegen die eigene Dichtung, die er nur für dialogi­sierte Lyrik hielt. Aber am 6. Oktober des gleichen Jahres erhält er Bescheid: „Verehrter Herr Doktor! Ihr Trauerspiel ,Armut' hat uns allen mächtig ans Herz


gegriffen; es ist ein prachtvolles Werk, vielleicht kein Futter fürs Publikum, aber eine Bühne, die auf sich hält, muß es spielen. Wir würden dies sehr gerne und hoffen denn, es für uns frei zu bekommen... Heinrich Glücks­mann, Deutsches Volkstheater in Wien."

Am 16. Jänner 1915 fand die Uraufführung statt. Hubert Keusch führte Regie. Die Besetzung: Spuller — Jaro Fürth, Mathilde — Josefine Glöckner, Gottfried — Ferdinand Onno, Marie — Lina Woiwode, Strantz — An­ton Edthofer, Stanck — Hans Lackner, Radinovich — Paul Askonas, Amtsvorstand — Adolf Weisse, Vogt — Anton Amon, Goldsohn — Theodor Weiss.

Der Publikumserfolg war gewaltig, die Presseresonanz sehr unterschiedlich. Wildgans' ehemaliger Professor Jerusalem beanstandete nur den 4. Akt, der noch den Vorstand mit dem Polizeikommissar auf die Bühne brachte. Hofmannsthal hielt sich zurück. Als Postskrip-tum eines Briefes vom 26. März 1915 schrieb er lediglich: „Ich sah im Jänner Ihr Stück, war von vielem darin sehr bewegt, möchte lieber nur dies sagen, als etwas fachli­ches'." Dreizehn Jahre später geht er mehr auf das Stück ein. In einem Brief vom 8. Jänner 1928 schreibt er: „Ich war vor zehn Jahren sehr stark angezogen von einem Element in Ihren Stücken, in ,Armut' am meisten, aber auch in den ändern, das mir als das heimatliche erschien. Dann trat etwas Anderes hervor, Ihr Pathos, das wieder andere, sehr persönliche Wurzeln hat und im Ausdruck sehr hoch dringt, in die classische Sphäre — gerade das, merkwürdiger Weise, war mir viel fremder und mutete mich nicht mehr vertraut an. Das sind die höchst sonder­baren Anziehungen und Abstoßungen zwischen Zeitge­nossen, doppelt, wenn sie noch Landsleute sind."

Am 10. April fand bereits die deutsche Erstaufführung, und zwar am Mannheimer Theater, statt. In Österreich kam es in Graz zur zweiten Aufführung des Stückes (26. April 1915) unter Julius Grevenberg. Ferdinand Onno spielte auch hier als Gast den Gottfried, als Jude Goldsohn war der spätere große Komiker des Burg­theaters, Ferdinand Maierhofer, zu sehen. Der Beifall des ausverkauften Hauses dürfte den der Wiener Urauf­führung noch übertroffen haben. Es folgten Premieren in Hamburg und München (26. September 1915). Diese Inszenierung ist wichtig, da in ihr zum ersten Mal die Neufassung des 4. Aktes gegeben wurde. Obwohl der von Wildgans begeisterte Dramaturg des Hoftheaters, Karl Wollf, selbst Regie führte, war der Dichter mit der Aufführung überhaupt nicht zufrieden. Jetzt erst er­kennt er den Wert der österreichischen Schauspielkunst. Überhaupt passen ihm die deutschen Inszenierungen nicht, insbesonders an den Provinztheatern, wo man sich die merkwürdigsten Regiekünste leistet: „Mystische Beleuchtungseffekte beim Auftreten des Amtsvorstandes, musikalische Untermalung der Schlußszene des Stückes, Chöre mit dem lateinischen Text des Endes usw."

Am 22. Oktober des gleichen Jahres wurde die Neu­fassung auch am Wiener Volkstheater gespielt. Den Amtsvorstand gab jetzt Wilhelm Klitsch. In Reinhardts Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin kam das Stück 1916 zur Aufführung, unter anderen mit Ernst Deutsch, Hermann Thimig und Joseph Gregori. In den folgenden Jahren wurde das Stück auf mehr als 100 deutschen Bühnen gespielt! Eine Aufführung im späteren Reinhardtseminar 1918 machte dem Dichter besondere Freude: „Es war rührend, das eigne Werk aus diesen jungen Herzen aufblühen zu sehen ..."

Nach dem Krieg wurde das Deutsche Nationaltheater in Weimar mit einer Festaufführung des Stückes wieder eröffnet. Mit dem Dramatiker Richard Duschinsky als Gottfried wurde „Armut" von der Wanderbühne des österreichischen Volksbildungsamtes 1921 gespielt. In­zwischen war Wildgans dafür mit dem Volkstheater-und dem Raimundpreis ausgezeichnet worden.

Nach Aufführungen in der Schweiz, Holland und Schweden kam es 1931 am Deutschen Volkstheater zu einer Neuinszenierung durch den Dichter Franz Theodor Csokor. Mit Karl Ehmann als Spuller, Hans Schweikart als Gottfried, Hans Olden als Strantz, Siegfried Breuer als Stanck, Eduard Loibner als Radinovich, Curt von Lessen als Amtsvorstand, Franz Schafheitlin als Vogt und Karl Skraup als Goldsohn. „Csokor hat als Dichter den Dichter ins Atmosphärische begleitet", schreibt die „Neue Freie Presse" (18. 4. 31), und auch die „Volks­zeitung" hebt die besondere Leistung des Spielleiters hervor, wenn sie schreibt: „... Allerdings hatten die Herrschaften in dem Spielleiter einen Führer, der auch ein Dichter ist. Franz Theodor Csokor, der seinen Wild­gans von Jugend auf voll Verständnis geehrt und geliebt hat." (19. 4. 31)

Das Burgtheater spielte das Werk erst nach Wildgans' Tod, 1935, unter der Regie Franz Herterichs und im Bühnenbild von Remigius Geyling mit Willi Thaller, Lotte Medelsky, Helmuth Krauß, Julia Janssen und Fred Liewehr sowie Emmerich Reimers, Julius Rarsten, Franz Herterich, Fritz Strassni und Ferdinand Maier-hofer.

Trotz guter Kritiken sowohl des Stückes wie der Auf­führung brachte es diese Inszenierung nur zu fünf Wie­derholungen. Eine Seminaraufführung in der Scala 1937 ist theatergeschichtlich nicht uninteressant, spielte doch die Rolle des Spuller kein geringerer als Leopold Rudolf, über den bereits damals die Presse urteilte: „Leopold Rudolf als sterbender Postbeamter konnte sogar Erin­nerung an die Meisterleistung von Carl Goetz herauf­rufen." Im gleichen Jahr bringt auch das Österreichische Theater unter Hans Georg Marek das Stück heraus und bringt es zu 25 Wiederholungen.

In einer Matinee des Burgtheaters zum 10. Todestag des Dichters wurde 1942 der vierte Akt von „Armut" mit Hermann Thimig (Spuller), Helmuth Krauß (Gottfried), Felix Steinböck (Der Fremde) und Maria Mayer (Mutter) gegeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die erste Aufführung von „Armut" wieder im Reinhardt-Seminar statt (1946). Die Wahl des Stückes wird von der Presse begrüßt, die auch in ihren Kritiken voll des Lobes ist. Im gleichen Jahr bringen auch die „Zeitspiele" das Werk, wieder unter der Regie Mareks.

Ein Jahr darauf inszenierte Heinz Schulbaur das Stück in Radio Wien anläßlich des 15. Todestages von Anton Wildgans. (Eine erste Radioaufführung hatte bereits 1925 stattgefunden.)

Eine „erschütternde Leseaufführung ..., welche die „Armut" in unser Bewußtsein von völlig nackten Wän­den her projizierte, so unmittelbar, so voraussetzungs­los ..." (Presse vom 30. 10. 51) fand 1951 im Theater „Die Insel" statt.

Unerwartet war der Erfolg des Stückes, als sich endlich — 1951 — das Burgtheater wieder seiner annahm und es im Akademietheater unter der Regie Walter Davys aufführen ließ. Friedrich Schreyvogl schreibt darüber in der „Neuen Wiener Tageszeitung" vom 30. 10. 51: „Davy inszeniert das Stück mit durchaus richtigem Instinkt. Keine ,kompakte Szenerie', alles ist nur angedeutet, alle Linien sind verschoben, ja einmal fehlt völlig die Zim­merdecke und eine fantastische Projektion, das Wirkliche zum Überwirklichen erhöhend, ist darüber auf den Rundhorizont geworfen. Hiebei hat der neue Bühnen­bildner Skalicki Davy ebenso gut unterstützt wie die Musik von Paul Kont... So ist das Stück, das eine ganze Epoche des österreichischen Theaters bestimmte, wieder lebendig geworden; noch immer leuchtet sein Licht..."

Von den schauspielerischen Leistungen werden beson­ders die der Jungen, Annemarie Düringers als Marie und Heinrich Schweigers als Gottfried, hervorgehoben. Während die große Zahl der Aufführungen für den emi­nenten Publikumserfolg spricht und Peter Loos in „Der Abend" von einer „wunderbaren Aufführung" schreibt, bleibt nur der „Wiener Kurier" zurückhaltend. Aber auch Gertrude Obszyna gibt zu, wenn auch mit Einschrän­kung: „Im ganzen Lob, aber nicht Begeisterung." (29. 10. 1951)

Hermann Kutscher inszenierte das Stück im Theater in der Josefstadt in leeren Wänden, nur mit Lichtregie, und erzielte damit auch für das Werk einen schönen Erfolg.

Das Volkstheater in den Außenbezirken spielte das Stück 1964. Auch bei „Armut" und noch weit mehr als beim Gerichtseinakter kann man an den Kritiken den völligen Wandel der Einstellung gegenüber Wildgans bemerken. Fast alle sind sich jetzt darin einig, daß das Stück veraltet ist, wenn auch einige es trotzdem für wert halten, aufgeführt zu werden, andere es dagegen für völlig erledigt ansehen. Die meisten, wie Liselotte Espenhahn im „Kurier" vom 5. Oktober 1964, schätzen das ehrliche Wollen des „Lyrikers" Wildgans, sprechen ihm aber echte dramatische Kraft, vor allem aber echte soziale Erkenntnis ab. So schreibt Espenhahn u. a.: „... Schaudernd vor den Häßlichkeiten des Daseins (sie zu übersehen, war sein Blick zu scharf — sie zu bekämpfen, seine Kraft zu gering), kostümierte er sie (die Dinge dieser Welt) mit dem hohen Pathos seines Herzens und seiner Sprache. Und sprach dabei wohl tiefe, aber oft auch nur halbe Wahrheiten aus." „... es wurde einer sei­ner größten Bühnenerfolge, was wir heute kaum mehr ganz verstehen können", heißt es in einer anderen Zei­tung (Stimme der Frau, 17. 10. 64).

Die marxistischen Blätter nehmen — anders als zur Zeit der Entstehung des Stückes — Anstoß an der nur innerlichen Befreiung der Armen. Nur Piero Rismondo in der „Presse" vom 6. 10. 64 bricht allen seinen Kolle­gen zum Trotz eine Lanze für seinen alten Dichterkolle­gen Wildgans: „Es ist hohe Zeit, sich Anton Wildgans' nicht nur zu erinnern, sondern ihn auch wieder zu spie­len", beginnt er seinen Bericht, und weiter heißt es a. a. St.: „ ... obwohl das Werk die .Aktualität', der es vor 50 Jahren entsprang, völlig eingebüßt hat, ja, obwohl es geradezu ,unaktuell', man möchte sogar sagen .anti-aktuell' geworden ist, vermag es tief zu ergreifen... Denn das Drama, das sich hier unter der Oberfläche des Alltags abspielt, ist das Drama des Menschseins ..."

Die Aufführung unter Leon Epp wurde durchwegs gut besprochen. Es mag vielleicht auch ein Beweis für den Konformismus unserer Kulturmacher sein, daß die Kriti­ken zu der Aufführung von 1979 im kleinen Ateliertheater unter der Regie von Peter Janisch denen von 1964 ganz ähnlich waren, obwohl die sehr in Molltönen gehal­tene Aufführung bewußt jedes falsche oder für falsch auslegbare Pathos mied und auf das Publikum einen starken Eindruck machte.

Ein zweiter Teil des Stückes, betitelt „Die Schande", eine Abtreibungstragödie um Gottfrieds Schwester, blieb nur Entwurf. Man mag sich heute vielleicht etwas ver­wundert fragen, wieso es Wildgans möglich war, in den beiden ersten Jahren des Krieges mit solcher Konzen­tration ein Stück zu schreiben, das mit den akuten politi­schen Ereignissen schon gar nichts zu tun hatte, und wieso ein solches Stück zu einem unbestrittenen Publi­kumserfolg des deutschsprachigen Theaters in dieser Zeit werden konnte.

Wegen seines bösen Gefäßleidens war Wildgans vom Kriegsdienst befreit. Er glaubte nun, als patriotischer p Österreicher, als Dichter seinen Dienst am Vaterland absolvieren zu müssen. Seine Kriegsgedichte, denen Wirk­samkeit nicht abzusprechen ist, sind zum Teil für unser heutiges Empfinden unfaßbar. Eine Zeile wie „Als Gott uns aufrief zum großen Morden" kann man heute nur mit Kopfschütteln quittieren. Bleibender ist da wohl „Das große Händefalten", in dem er nicht um Sieg, sondern um Gerechtigkeit betet. Daß ein Mann, den wir bisher als Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit und Vertre­ter eines übernationalen Menschentums kennengelernt haben, durch den Ausbruch eines Krieges plötzlich die Rolle eines patriotischen Fanatikers annehmen kann, ließe uns an seiner Ehrlichkeit zweifeln, kennten wir nicht genügend Parallelfälle aus den ersten Jahren des Ersten Weltkrieges, da selbst Männer wie Gerhart Haupt­mann oder Thomas Mann nationale Standpunkte ein-nahmen. Wir würden der ahnungslosen Generation von 1914 Unrecht tun, urteilten wir über sie mit den Maß­stäben und der Erfahrung unserer Zeit. Dazu müssen wir uns auch noch einmal an die Herkunft des Dich­ters aus dem Hause eines Staatsbeamten erinnern. Mit 14 Jahren schrieb Wildgans ein pathetisches Gedicht auf den Kaiser, aber drei Jahre später bereits eines zur 50-Jahr-Feier der 48er Revolution. Auch das ist bezeich­nend für den Sohn aus bürgerlichem Haus im ersten Viertel unseres Jahrhunderts: dieses Hin- und Herge-worfensein zwischen anerzogener Pflichtgesinnung und eigenen Erkenntnissen aus der Not der Zeit. Und so bleibt auch das Weltbild Wildgans' unsicher, und seine politischen Gedanken widersprechen sich oft.

Schon unmittelbar nach dem Attentat von Sarajewo schrieb er in sein Tagebuch: „Ich gewinne keinen Stand­punkt zur Frage. Und fühle nur dumpf: es muß dies­mal sein". 1917 nennt er die Monarchie einen indolenten, politisch unreifen, in lauter Rücksichten versponnenen Staat.

„Ich finde keine Richtung in diesem Wirrsal", gesteht er am 2. Mai 1918 Max Mell. Ein Prolog zugunsten der österreichischen Kriegsanleihe, in dem nebeneinander Verse wie „Gewehr im Arm, Faust stark zum Gegen­hiebe" und „Denn dieses Geistes Sieg heißt Frieden! Frieden!" stehen, erschien ihm so lange als sein bestes Kriegsgedicht, bis ihm durch die Rede Friedrich Adlers vor Gericht die Augen aufgingen: „Das war ein Bild von Österreich, wie es vielleicht wirklich ist, wenn man es nicht mit liebebewehrten Blicken betrachtet", schreibt er darüber an Max Mell.

1918, wenige Tage vor dem Untergang, spricht er von einer wirklichkeitsfremden Idee, die Völker zusammenge­halten hat, von einem Kartenhaus, das so lange hielt, als der Friede vorhanden war, während er zwölf Jahre später in seiner vielzitierten „Rede über Österreich" das alte Reich verteidigt: „Denn es erscheint als eine allzu­leicht hingenommene Behauptung, daß der frühere Na­tionalitätenstaat in seinen Grundfesten morsch und als solcher unmöglich gewesen wäre. Unmöglich war er bloß als Schwerthelfer des Germanentums... Wir Werk­leute an dem Bau eines neuen brauchen das alte nicht zu verleugnen." Während er idealistisch an die „Sen­dung des österreichischen Volkes, die anderen zu achten und dennoch wir zu bleiben" glaubt, hält er den Weltkrieg nur für eine Phase der Weltrevolution. Die aber ist für ihn nichts anderes als eine neue Erscheinungsform des Panslawismus. „Und verdient dieses Europa", schreibt er in einem Brief an den Verleger Staackmann 1925, „mit seinem ewigen inneren Zwist, mit seinen sozialen Unmenschlichkeiten, mit seiner ideellen Ver­sumpfung etwas anderes, als von außen her gründlich erneuert zu werden...?" Zugleich sieht er, und damit finden wir wieder zur sozialen Problematik zurück, im ökonomischen System die fortschreitende Entmensch­lichung des Staates: Am 30. November 1918 schreibt er in sein Tagebuch:

Von Sozialismus, von Demokratie, Vom Staatsbürger und vom Wähler Wird viel geredet, vom Menschen nie — Der gilt nur als stummer Zähler.