Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Herbert Zeman: Zur Lyrik des Anton Wildgans
Franz Hadriga: Der Mensch und Dichter Anton Wildgans
Carmen Friedl: Die Urgespaltenheit der Welt
Heinz Gerstinger: Der Dramatiker Anton Wildgans

Carmen Friedl: Die Urgespaltenheit der Welt

Die Urgespaltenheit der Welt

 

Über Anton Wildgans und sein Epos "Kirbisch"

Von Carmen Friedel

 

Anlässlich seines Verzichtes auf die Laufbahn eines Richters bekannte der Jurist Anton Wildgans sich zu dem Ziel, in seinen Dichtungen Recht von Unrecht zu scheiden, den Harten und Ungerechten den Spiegel der Wahrheit vorzuhalten und den anderen, die unter diesen leiden, wenigstens den Trost des Bemerkt- und Verstandenseins zukommen zu lassen. Tatsächlich trug der als unverwechselbar empfundene berührende Ton seiner Lyrik ihm jene Sympathie ein, die aus dem Gefühl innerer Übereinstimmung erwächst, und unter seinen Dramen übte das weitgehend autobiographische Trauerspiel "Armut", in welchem ein Gymnasiast die tristen Verhältnisse in seiner Familie als Auftrag begreift, vermöge des dichterischen Wortes um Mitleid und Liebe für alle Benachteiligten zu werben, die stärkste Wirkung aus. Im Verlauf seiner ersten Tätigkeit als Direktor des Wiener Burgtheaters 1921 bis 1922 sah Anton Wildgans sich im Interesse des ihm anvertrauten Kulturgutes dauernd zu einem Kampf gegen die Bundestheaterverwaltung gezwungen, bis er, infolge einer Venenentzündung außer Gefecht gesetzt, von seinen Gegnern auf unlautere Weise zur Demission veranlasst wurde. Die ihm aus Gründen der Staatsräson monatelang auferlegte Pflicht, über den wahren Sachverhalt zu schweigen - seine Rechtfertigungsschrift erschien erst 1923 in der "Neuen Freien Presse" -, stürzte ihn in eine schwere Krise, und der Verlust des Glaubens an den Sinn auch literarischen Bemühens lähmte seine schöpferischen Triebkräfte. Durch das Übersetzen von Sonetten aus dem Italienischen gewann er aber wieder Freude am Formulieren, und schließlich reizte die Erfahrung der Korruption ihn dazu, sich in einer thematisch neuen Art eigenständigen Schaffens zu versuchen.

Da entsann er sich der Zustände in seinem Refugium Mönichkirchen am Wechsel 1917, als der dortige Wachtmeister die Lebensmittelknappheit ebenso wie den Ehebruch seiner Frau zum eigenen Vorteil zu nutzen verstanden hatte. Und in der Fantasie des Dichters entstand aus der paradoxen Affäre die in den Eingangsversen des "Kirbisch" angekündigte "Geschichte von Schande und Glück des Gendarmen", eingebunden in die Idee, A"an dem moralischen Niedergang eines Dorfes während des Krieges den moralischen Niedergang der ganzen Welt aufzuzeigen".

Variation der Töne

Die burleske Geschichte bildet nur den Kern der Erzählung von den Geschehnissen in dem "am Hang des gewaltigen Volland" wie auf abschüssiger Bahn gelegenen Dörfchen Übelbach. Der Titelheld Kirbisch lässt sich nämlich vier Gesänge lang gar nicht blicken, um endlich, aus dem gewohnten Müßiggang aufgeschreckt, als ein jämmerlicher Unheld dazustehen. Dann allerdings wird er gleich zweimal hintereinander zum Anlass für einschneidende Veränderungen, ehe er - nach dem Umschlagen seiner Schande in Glück - in die Belanglosigkeit zurückversinkt. Das kommt so: Ein Regierungsvertreter nötigt den Gendarmen zur Beschlagnahme der Vorräte im Ort, indem er ihm mit dem Frontdienst droht, sofern er nicht den Hungergesetzten Geltung zu schaffen verstehe; der Wirt jedoch verführt den alsbald verhassten und überdies Gehahnreiten zur Bestechlichkeit, mit dem Ergebnis, dass der nunmehr von allen Verwöhnte sich ein Fettherz anfrissst, das ihn militäruntauglich macht. Die Überschrift der letzten drei Gesänge zeigt die Ironie zum bitteren Sarkasmus gesteigert, denn zum "Glück" in viel größerem Ausmaß gereicht diese Entwicklung dem Pack der Geschäftemacher, während es den Opfern der um sich greifenden Skrupellosigkeit schlecht ergeht.

Der satirischen Perspektive unterliegen auch die kriegsdienstbefreiten, vorzugsweise in der Wirtsstube politisierenden Honoratioren des Dorfes sowie die an den Stätten des ländlichen Handels und Wandels Tratsch verbreitenden Weiber. Ihrer Entlarvung dienen die Homer abgeguckten Epitheta ornantia - ihren Namen beigefügte Bezeichnungen, die hier launig bis scharfzüngig lauter Schwächen und Laster verraten, dies besonders einprägsam bei "Fürbaß Romanus Ägyd, dem lendengewaltigen Selcher" und bei dem Postfräulein "Rose Rachoinig, der unfreiwilligen Jungfrau".

Durch eingeflochtene Zitate und Anspielungen werden wiederum die geschilderten Zu- und Missstände der Lächerlichkeit wenn nicht Verachtung preisgegeben. Die als kontrastierende Folie zu Übelbach einbezogenen Elemente aus dem antiken Epos modifizieren die Sicht auf die Dinge: Wer um ihre Herkunft weiß, genießt, wie durch sie das mittels der Fabel entrollte Menschen- und Zeitbild aus allen möglichen Blickpunkten beleuchtet wird und so an Weite und Fülle gewinnt.

Zweipoligkeit der Darstellung

Die Symbolhaftigkeit des fiktiven Mikrokosmos Übelbach erhellt bereits aus der die Erzählung einleitenden Legende vom Volland (= ,der Schreckende'). Mit ihr ist - wie von den Theoretikern des Epos gefordert - der Mythos einbezogen: die Urdichtung aller Völker als die früheste Ausdrucksform religiösen Fühlens. Es war die Furcht vor Heimsuchungen, die die "Väter verschollener Läufte" dazu trieb, die ihnen unerklärlichen Phänomene sinngebend zu deuten, um den Zufall als Fügung zu erleben. So offenbarte sich den Bergbewohnern der Felsen als der zu Stein erstarrte Teufel, dessen Herzschlag sich zuweilen in einem unterirdischen Pochen kundtut. Sie begründeten das von Zeit zu Zeit über sie hereinbrechende Unheil mit dem Ereignis des Engelsturzes. Der Geist des Aufruhrs, von Gott niedergeworfen, im Bereich der Erde aber weiterhin lebendig, trat für sie als Ursache allen Übels zutage.

Durch den Bezug zwischen "Gottes Machtspruch" über den seiner Selbstüberhebung wegen "aus Himmeln" verstoßenen Luzifer und dem "Jüngsten Gerichtstag", dessen die Menschen gegenwärtig sein müssen, erfährt ihr Leben eine Einordnung in höhere Zusammenhänge. Es entsteht ein Weltbild, das die Polarität zwischen dem Göttlichen und dem Gottfeindlichen in sich schließt - eine Spannung, die immer eine Entscheidung verlangt. - Die ätiologische Ortssage hat eine für die Struktur des Werkes wichtige Funktion: durch sie wird das künftige Geschehen unter den Aspekt eines drohenden Verhängnisses gestellt.

Doch noch retten die Ansiedler sich aus dem Bann des Dämonischen und der Schuld in die Sphäre des "uralten Kirchleins", um sich Schutz und Vergebung zu sichern. Die Landschaft zeugt von dem Fleiß und der Tüchtigkeit der Bauern, die in rauer Gegend die Natur nutzbar machen, und vermittelt den Eindruck friedlicher Daseinsbewältigung. Der eingangs auf die Umrisse des Ursteingebirges gerichtete Blick verweilt sodann auf einem Plätzchen in lichter Höhe, wo der Pfarrer, die Kellnerin Cordula und "Vitus, die Einfalt des Dorfes", einträchtig und heiter gestimmt eine kurze Rast genießen. Aber das Idyll erweist sich als unhaltbar, denn ein zu den Waffen einberufener Familienvater lenkt die Gedanken des Geistlichen auf den Widersinn des Krieges, der mit seiner Umkehrung der Gebote den auf dem Schlachtfeld dem Grauen und dem Verderben ausgelieferten Soldaten die Überwindung aller Hemmungen auferlegt. Und der Abstieg vom Berg führt bis in die profane untere Region des Dorfes mit dem "Gasthaus zum Störrischen Engel" (= "starr"), in dessen Dunstkreis der ruhelose Geist des versteinerten Luzifer sein Unwesen recht ungebändigt zu treiben scheint. Hier sind es die wild wuchernden Triebe, die die schlichte Harmonie zerstören.

Die dem Mythos vom Volland symbolisiert dargestellte Polarität durchwirkt die gesamte Dichtung und verleiht den Vorgängen dynamische Akzente. Aufeinander prallen die Gegensätze bei dem anlässlich des Abtransports der konfiszierten Lebensmittel auf dem Marktplatz zwischen dem Pfarrer und dem Wirt ausgefochtenen Kampf um den Einfluss auf die randalierende Bevölkerung. Die beschwichtigende Mahnung des Pfarrers, bei der besonders in den Städten herrschenden Hungersnot doch das Wohl des Ganzen im Auge zu haben, verhallt. Der aufwiegelnde Vorschlag des Wirts, Übelbach durch das Angebot von Friedensverpflegung in einen Fremdenverkehrsort zu verwandeln, wodurch das Teilen dem Aufschwung der Gemeinde diene, die ja eine der vielen Zellen des Staates sei, findet dagegen stürmischen Beifall. Und mit dem Sieg des gefährlichen Zwingherrn der blöden und gierigen Menge, gipfelnd in dessen Ernennung zum Ortsvorsteher, ist die entscheidende Wende schon vor der Überlistung bloß aus Feigheit amtshandelnden Kirbisch besiegelt.

Der Pfarrer wird in seiner Ohnmacht irre am Glauben und stirbt in Fieber-fantasien, überwältigt von den eschatologischen Bildern einer nicht aufzuhaltenden Entartung der Menschheit, die die Zeit des Antichrist heraufbeschwört. - Während "das Reich" sich nur noch "mit dem letzten Mut der Verzweiflung" wehrt und bereits "die Zersetzung im eigenen Lande" wühlt, ist Übelbach am Theresienkirtag reif für die Katastrophe, die der Sage vom Volland nach beim Überhandnehmen des Bösen auf Erden fällig ist. Durch die Explosion der in der Ebene gelegenen Munitionsfabriken (eine solche ereignete sich tatsächlich 1917 in den großen Rüstungszentren Wöllersdorf und Blumau) erbebt der Berg, als ob Luzifers Herz schlüge und dringen die Schrecken des Krieges auch in das aus den Fugen geratene Gebirgsdorf. - Die schwangere, von ihrem Verführer im Stich gelassene Cordula flieht des Nachts hinauf auf den Schriebl (so benannt nach einem Gehöft in der Steiermark). Vor Einbruch des Winters muss sie ihr Asyl jedoch verlassen und am Grenzstein Abschied nehmen von Vitus, dem törichten Dulder, der als der einzige Gerechte in dem Ort am Volland zurückbleibt. Auf ihrem Weg ins Ungewisse sucht sie aus der verklärenden Legende von der Geburt des Heilands Kraft zu schöpfen. Und an den Opfermut, das Durchhaltevermögen und die Liebesfähigkeit von Müttern ihrer Art knüpft der Erzähler bei all seiner Skepsis die Hoffnung, dass immer wieder ein Mensch heranwachsen wird, der stark genug ist, "selbst eine Welt sich zu schaffen aus seinen Träumen".

Realitätsbezogenheit

Das durch den Krieg als den Aufstörer böser Gelüste bedingte Los der Cordula wirkt heute aktueller denn je in Anbetracht der zahllosen Frauen, die - oft grausamsten Misshandlungen ausgesetzt - ihre und ihrer Kinder Rettung nur noch in der Flucht erblicken. Aber auch das Vertrauen in die Unbeirrbarkeit der Liebe, zu dem der Erzähler sich trotz seiner illusionslosen Voraussicht bekennt, erweist sich als berechtigt, da der gute Wille sich über den Tod der Auf-der-Strecke-Gebliebenen hinaus bewährt. Lässt man doch - dem Teufelskreis der Unmenschlichkeit Widerpart zu bieten - insbesondere in den weltweit errichteten SOS-Kinderdörfern gerade den jüngsten Opfern der Gewalt jene mütterliche Fürsorge angedeihen, die ihnen die Chance gibt, sich zu Hoffnungsträgern für die Zukunft zu entwickeln!

Als typisch können wohl so manche der in diesem Epos dargestellten Personen und Situationen gelten. Zu dem vom Autor in Mönichkirchen Beobachteten, das zur Keimzelle der "Geschichte" wurde, gesellt sich nahezu Abgebildetes: Vor ein paar Jahrzehnten traf man dort oben noch Einheimische an, die sich gern als Vorbilder für gewisse Übelbacher interviewen ließen, und einige Schauplätze der Handlung sind völlig unverändert erhalten geblieben.

Die biographischen Quellen der Inspiration entdeckt man dagegen bloß in ideellen Aspekten. Bei der Charakterisierung der Cordula gedachte der Dichter gewiss seiner früh von der Schwindsucht dahingerafften Mutter Therese Wildgans, die als Mädchen stellungsuchend aus Mähren nach Wien gekommen war und sich im Hause seines Großvaters durch ihre aufopfernde Hilfsbereitschaft die Achtung und Zuneigung des jungen Herrn erworben hatte. Die Zeichnung des behinderten Vitus sowie die des gelähmten Kindes auf dem Schriebl wäre ihm kaum so herzbewegend gelungen, hätte er sich als Schüler und Student die innige Teilhabe an fremdem Leid nicht zu eigen gemacht im engen Zusammenleben mit seinem Vater, dem nach einer Hirnblutung einem neunjährigen Siechtum anheimgefallenen Ministerialrat Doktor Friedrich Wildgans.

Die Art, in der der unsichtbare Berichterstatter das, was sich am Volland begab, in seinen melodischen Versen so anschaulich vermittelt und in christlicher Gesinnung kommentiert, beruht indes offensichtlich auf jener traditionsbewussten römisch-katholischen, humanistischen, juristischen und musischen Bildung, von der der Autor selbst geprägt war als der Sohn eines Bürgers der Kaiserstadt Wien um 1900. Dass Anton Wildgans, erfüllt von der Sehnsucht des Städters nach dem Land, die Schönheit der Welt auch angesichts des Furchtbaren nicht aus den Augen verlieren wollte, äußert sich in seinem "epischen Gedicht" vor allem beim Preisen der Natur im Wechsel der Jahreszeiten. Bestricken diese lyrischen Passagen, so fesseln in den packenden Szenen oft höchst dramatische Momente. Die Einheit des Ganzen liegt im Temperament des Erzählers, dessen Beweglichkeit, trotz der epischen Breite, für ständig wechselnde Eindrücke sorgt. Hier aber zeigt sich die Leistung der strengen Form und der gebundenen Sprache: Sie erfordern die geistige Bewältigung des Chaotischen und Verstörenden und bewahren vor einem Ausufern.

All das gestattet es, im "Kirbisch" eine Spielart des Hexameterepos zu sehen, in der die dem tradierten Typus anhaftende Antiquiertheit überwunden und der Horizont bis zur Gegenwart herauf erweitert ist, sodass das Werk als lebenswahr und zeitlos gültig erlebt werden kann.

 

Dr. Carmen Friedel ist Verfasserin der Studie "Der junge Anton Wildgans. Von der Erfahrung des gehemmten Lebens zum Ideal der Dichtkunst als Lebenshilfe." Peter Lang Verlag Frankfurt 1999.

 

Freitag, 03. Mai 2002