Anton Wildgans
Österreichischer Lyriker und Dramatiker 1881 - 1932
Akkord
Aufblick
Blick von oben
Das Lächeln
Dienstboten
Dieses Haus wird demoliert
Einem jungen Richter zur Beeidigung
Freunde
Glück des Alleinseins
Ich bin ein Kind der Stadt
Im Anschaun meines Kindes
Kammermusik
Letzte Erkenntnis
Lied des Schmarotzers
Sankt Othmar
Sonette an Ead
Stimme im Traume des Künstlers
Tiefer Blick
Triptychon der Liebe
Vom kleinen Alltag
Wiedersehen mit Gott
Zueignung an die geliebte Landschaft

Vom kleinen Alltag

1.

 

Nicht ist so rührend wie die Habseligkeiten

Der Toten, ihre Kleider und Wäsche und alle

Die kleinen verlassenen Gegenstände. Sie liegen

So arm umher und warten, daß wieder Hände

Sie nehmen mit wärmenden zärtlichen Fingern.

Sie frieren so sehr und haben auf einmal Augen,

Die bitten, sie nicht zu verachten. Aber da kommen

Die Menschen, sie teilend nach Wert und Unwert legen,

Was brauchbar, beiseit und häufen das andre zusammen.

So manches findet sich da. Hier hat sich der Tote

Noch neue Brillen gekauft, in seiner Brieftasche

Sind noch Marken und in der Schreibtischlade

Drei, vier Zigarren, gespart für besonderen Anlaß.

Nun nimmt sie der Erbe und prüft sie, ob sie auch trocken.

Dann zündet er eine sich an und raucht sie ...

 

  

2.

 

Man muß die Frauen der kleinen Beamten sehen,

Den Korb am Arm, wie sie einkaufen und bei den Ständen

Der Grünzeughändler stehen, aus den Gemüsen

Das Billigste wählen und da noch zu feilschen versuchen.

Lang währt solcher Einkauf, und oft muß die Hand,

Die mühsam gepflegt und weiß erhaltene,

Was schon ergriffen, wieder hinlegen, weil es

Zu teuer. Aber die Blicke ruhn noch darauf.

Da kommen und drängen sich dicke Köchinnen vor

Und fassen mit roten, rohen, unbedenklichen Händen

Nach diesem und jenem, was kostbar und gut ist, und kaufen

Mit fremdem Gelde für Leute, die sie nicht lieben.

Und jene hätten das zarte Gemüse, das junge,

Dem müden Manne süß sorgend bereitet als erste

Gabe des Frühlings – nur um ein Lächeln.

 

  

3.

 

Die armen Leute ziehen am Sonntag hinaus

Ins Grüne. Sie nehmen sich Kaltes und Brot mit. Dann liegen

Sie auf den Wiesen und lassen die Sonne scheinen

In ihre enterbten Gesichter, dehnen ihre Körper

Im Gras und fühlen der duftenden Erde kühle

Berührung. Die blonden blutleeren Mädchen lachen

Zuweilen und haben die Hände voll Blumen. Die Frauen

Berechnen, indes sie stricken, die Kosten des Tages.

Die Männer sind müde und schlafen bis gegen Abend.

Dann wandern sie an den Gärten vorüber, aus denen

Musik und lichter locken, der Duft von Speisen

Und das Gesumme vieler fröhlicher Menschen.

Da klagen die Kinder: Hunger! und sind von den Zäunen

Der hellen Gärten nicht wegzubringen. Aber

Der Vater sagt herb: Das ist nichts für uns ...

  

 

4.

 

Arbeiter reißen die Straße auf – Nun läuten

Die Glocken zu Mittag. Da klirrt der erhobene Arm mit

Dem Spaten noch einmal nieder. Dann gehen sie langsam

Zu ihren Röcken, die wie ein Haufen von Lumpen

Am Straßenrand liegen, und nehmen aus ihren Taschen,

Gewickelt in alte Zeitung, ihr Essen. Aufrecht

Stehend lehnen sie ihre verkrümmten Rücken

An eine Mauer im Schatten. Andere liegen,

Die Pfeife rauchend, der Länge nach auf dem Boden.

Andere schlafen. Alle schweigen. Die Sonne

Glüht senkrecht herab. Nur manchmal ein Luftzug treibt einen

Der weggeworfenen Zeitungsfetzen raschelnd

Über das Pflaster. Ein alter zerlumpter Mensch

Kommt da um die Ecke und bückt sich mühsam nach jedem

Papiere, faltet es sorgsam und gibt es in einen

Korb wie was kostbares. Immer sind andre noch ärmer.